Altes Kaufmannshaus in der Stadt Marx. Bild: Ulrich Heyden
Wir fahren entlang einer Steppe mit gelblich-bläulichen Gräsern und Kräutern. Man sieht Hirtinnen und Hirten mit Schafen, Kühen und jungen Pferden. Links und rechts der Straße ziehen sich große Felder mit Sonnenblumen, deren Blätter schon vertrocknet sind. Die Blumen sind für die Ölproduktion bestimmt, werden aber erst im Oktober vor dem ersten Frost geerntet.
Die Neugier auf Unbekanntes ist groß und so halten wir an einem Markt für geräucherten Fisch aus der Wolga. Ich kaufe einen kaltgeräucherten Som und einen Sudak mit wenig Salz und zahle zwölf Euro.
Schließlich erreichen wir Marx. Am Ortseingang steht ein großes weißes Relief des deutschen Philosophen, der das "Manifest der Kommunistischen Partei" schrieb.
Durch Krieg und Systemwechsel hat sich der Namen der Stadt Marx mehrmals geändert. Zunächst hieß sie Katharinenstadt. Der Name war eine Anerkennung an die Zarin Katharina die Große. Sie hatte im Dezember 1762 Ausländer nach Russland eingeladen.
Die Neuansiedler sollten das dünnbesiedelte Wolga-Gebiet vor Eindringlingen schützen und landwirtschaftlich erschließen. Dem Aufruf folgten vor allem Deutsche, Niederländer und Schweizer.
Die Deutschen bauten Getreide und Tabak an. In der mehrgeschossigen Tabakfabrik aus rotem Klinker im Zentrum von Marx wird heute Bier gebraut. Die Deutschen bauten den in der Gegend auch den bis dahin unbekannten Hopfen und auch Senf an.
1920, nach der Oktoberrevolution, wurde der Ort in Marxstadt umbenannt. Seit 1942 hieß die Stadt dann nur noch Marx. Weil Hitler-Deutschland 1941 die Sowjetunion überfiel, hatte man das deutsche Wort "Stadt" aus dem Namen getilgt.
Nordteil der Autonomen Wolga-Republik der Deutschen. Bild: Heimatmuseum Marx
Was er von dem Ortsnamen Marx halte, frage ich einen unserer Taxifahrer. "Ich habe nichts gegen diesen Namen", antwortet der etwa 45 Jahre alte Mann. "Und der gescheiterte Sozialismus?", hake ich nach. "Vielleicht hat man Marx nur falsch verstanden", antwortet der Taxifahrer diplomatisch. Und ja, über Marx habe er Einiges im Schulunterricht erfahren.
Die Stadt Marx hat keine Prunkbauten, so wie in Moskau und St. Petersburg. Doch die alten Kaufmannshäuser aus rotem Klinker in der Innenstadt zeugen von reger Wirtschaftstätigkeit. Reich sind die Menschen hier nicht. Aber die Stadt macht einen sauberen, ordentlichen Eindruck. Es gibt mehrere kleine Fabriken. Produziert werden Beton-Bauteilte, Lampen, Einzelteile für Dieselmotoren, Bier und Sonnenblumenöl. Viele fahren zum Geldverdienen nach Moskau und in den russischen Norden, wo Erdöl und -gas gefördert wird.
Die Deutschen bauten im Wolga-Gebiet viele Kirchen. Viele sind inzwischen zerfallen, oder sie werden als Schulen oder Verwaltungsgebäude genutzt. In Marx gibt es eine neugebaute katholische und eine evangelische Kirche aus dem 19. Jahrhundert. Letztere war zu Sowjetzeiten das Kulturhaus der Fabrik "Kommunist", welche Dieselmotoren für U-Boote herstellte.
1995 fand in der evangelischen Kirche von Marx der erste Gottesdienst seit 1941 statt. 2016 wurde der in den 1950er-Jahren gekappte Turm der evangelischen Kirche wieder aufgebaut. Mit finanzieller Unterstützung deutscher und niederländischer Gemeinden und eines russlanddeutschen Geschäftsmannes wurde die Kirche, die 1.000 Menschen fasst, komplett renoviert.
Die evangelische Gemeinde habe jetzt 50 Mitglieder, berichtet mir der Pastor Jakob Rüb, den ich nach einem Gottesdienst in der Kirche anspreche. Rüb ist seit 2019 Pastor in Marx. Seine Eltern stammen aus der ehemaligen Wolga-Republik. Sie wurden im September 1941 nach Sibirien deportiert: "Mein Vater war bei der Vertreibung elf Jahre, meine Mutter sechs Jahre."
Jakob Rüb - Pastor der evangelischen Kirche in der Stadt Marx. Bild: Ulrich Heyden
Mit seinen Eltern zog Rüb 1976 wieder in die Stadt Marx. "Ich bin in einer konservativen evangelischen Familie aufgewachsen", erzählt der Pastor. 1989 wanderte die Familie Rüb dann nach Deutschland aus, wo jetzt drei Kinder des Pastors leben.
Ob es schwer war, sich aus Deutschland zu verabschieden? "Ich bin der Knecht Gottes und bereit für den Herrn in seinem Weinberg zu arbeiten. Aber für meine Frau ist das schon nicht einfach gewesen, die Kinder in Deutschland zu lassen."
Nach der Oktoberrevolution 1923 bekam das von Deutschen besiedelte Gebiet an der Wolga den Status einer "Autonomen Sowjetischen Republik" innerhalb Russlands. Mit der Aufwertung wollte die sowjetische Führung die Integration der Deutschen fördern. 1939 lebten in der Republik 60 Prozent Deutsche und 25 Prozent Russen.
Das Autonome Gebiet der Deutschen hatte vor seiner Auflösung 1941 600.000 Einwohner. Die Bewohner waren damals vorwiegend in der Landwirtschaft tätig. Es gab aber auch Fabriken für landwirtschaftliche Maschinen. In einer dieser Fabriken in der Stadt Marx ging 1920 der Mini-Traktor "Karlik" (Zwerg) in Serie.
Am 28. August 1941 wurde die Republik der Sowjetdeutschen aufgelöst, aus Angst, Hitler könnte mitten in der Sowjetunion Sympathisanten finden.
Am 28. August 1941 begannen Einheiten des NKWD in der Deutschen-Republik mit der Deportation. Die Einwohner bekamen ein bis drei Tage Zeit, um ihre wichtigsten Habseligkeiten zusammenzupacken.
Dann wurden sie in Güterwaggons verfrachtet. In jedem Waggon befanden sich 40 Personen. Die Fahrt in entlegene Gebiete in Kasachstan und Sibirien dauerte viele Tage. Die Notdurft mussten die Menschen irgendwie zwischen ihrem Gepäck verrichten. Klos gab es nicht. 700 Menschen – vor allem Kinder – sollen bei der Zwangsumsiedlung gestorben sein.
Offenbar war es nicht einfach, den Deportierten in der neuen Umgebung Arbeit zu geben und sie vollständig an ihren neuen Wohnorten zu integrieren. Um soziale Spannungen abzubauen und den Mangel an Arbeitskräften auszugleichen – viele Männer waren an der Front – wurden 316.000 Deutsche unter Aufsicht des NKWD in Arbeitslagern kaserniert.
Die Deportierten wurden zur Arbeit in Panzer- und Munitionsfabriken, beim Bau von Wasserkraftwerken, in Stahl- und Aluminiumfabriken, auf Schiffswerften und beim Holzfällen eingesetzt.
Der Mehrheitsbevölkerung in der Sowjetunion ging es in den Kriegsjahren nicht viel besser. Weil die Männer an der Front waren, mussten Jugendliche und Frauen in den Rüstungsfabriken arbeiten.
Die Menschen in den Arbeitslagern nannten sich selbst "Arbeitsarmee", um ihren sozialen Status etwas zu erhöhen. Man wollte Teil des Widerstands gegen den deutschen Faschismus sein und träumte davon, nach dem Sieg über Deutschland in die Heimat zurückkehren zu können.
1946 wurden die Arbeitslager zwar aufgelöst. Aber die deportierten Deutschen durften ihre Verbannungsorte nicht verlassen. Sie mussten sich nun selbst Wohnung und Arbeit suchen. Erst am 3. November 1972 erließ der Oberste Sowjet der Sowjetunion einen Erlass, demzufolge die Deportierten wieder an ihre Heimatorte zurückkehren konnten.
Dies war vielleicht auch eine Folge der damals einsetzenden Entspannungspolitik zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion.
Die Leiden der deportierten Deutschen sollen hier nicht kleingeredet werden. Es muss aber daran erinnert werden, dass der europäische Teil der Sowjetunion nach 1945 durch den Vernichtungskrieg der Deutschen weitgehend verwüstet war. Die Bevölkerung im europäischen Teil der Sowjetunion lebte zwischen Trümmern. Jahrelang mangelte es an Lebensmitteln und gesunden, männlichen Arbeitskräften.
Im Heimatmuseum der Stadt Marx, gibt es mehrere Räume, in denen der Alltag der Deutschen vor der Verbannung dargestellt wird. Man sieht Betten und Kommoden im Stil des Klassizismus und Jugendstil, schwarze Frauenkleider, bunte Stricksocken und ein mit einem roten Faden besticktes weißes Tuch, auf dem zu lesen ist, "Arbeit ist des Lebens Zierde".
In einem Schaukasten des Museums sieht man auch die Anordnung des Obersten Sowjets zur Deportation, vom 28. August 1941. Dort heißt es: "Nach zuverlässigen Meldungen" gäbe es in der deutschen Bevölkerung an der Wolga "Tausende und Zehntausende Diversanten und Spione", die "auf Befehl aus Deutschland Explosionen auslösen sollen".
Über die Diversanten seien den sowjetischen Organen nichts mitgeteilt worden. "Folglich deckt die Bevölkerung die Feinde der sowjetischen Macht." In Kasachstan und Sibirien habe man "Boden für die Umsiedler bereitgestellt."
Anlass für die Deportation war möglicherweise eine am 4. August 1941 verfasste Meldung von der sowjetischen Südfront an Stalin. Am Dnjestr, wo es Dörfer mit kompakter deutscher Bevölkerung gab, sei die Wehrmacht "mit Brot und Salz" empfangen worden. Stalin schrieb voller Wut mit rotem Stift auf die Frontnachricht: "Fortjagen muss man sie."
In der Ukraine warb die SS erfolgreich Deutsche an, die 1944 bei den Kämpfen eingesetzt wurden.
Im europäischen Teil der Sowjetunion lebten vor dem Zweiten Weltkrieg 1,2 Millionen Deutsche. Nicht nur von der Wolga, sondern auch aus der Ukraine, dem Kaukasus, Moskau und Leningrad und anderen Regionen im europäischen Teil der Sowjetunion wurden insgesamt 800.000 Deutsche deportiert.
33.000 Deutsche sollen sich nach Ermittlungen des Historiker Nikolai Bugaj in den ersten Tagen nach dem deutschen Überfall bei den Wehrämtern gemeldet haben, ein großer Teil von ihnen aus der Wolga-Region.
Ab September 1941 wurden jedoch Deutsche aus der Roten Armee entlassen. Sie mussten von nun an in Baubrigaden dienen. Doch es gab viele junge Deutsche, die unbedingt an die Front wollten.
Sie ließen sich unter russischen, aserbaidschanischen und ukrainischen Namen für die Armee registrieren. Mehrere hundert Deutsche sollen es gewesen sein, die unter falschem Namen oder Unachtsamkeit der Diensthabenden in die Rote Armee aufgenommen wurden.
Einer der Deutschen, die in der Roten Armee kämpften, war Woldemar Wenzel. Er wurde im Dorf Orlowskoje, nicht weit von der Stadt Marx geboren. Als 17-jähriger meldete er sich unter dem Namen Wladimir Wenzow zur Front.
Nach einer kurzen militärischen Ausbildung wurde er Kommandeur einer Maschinengewehr-Einheit der 61. sowjetischen Armee. Am 25. September 1943 starb Wenzel, nachdem seine Einheit in der Ukraine den Dnjepr überquert hatte. Für seinen Mut wurde der junge Soldat nach seinem Tod als "Held der Sowjetunion" ausgezeichnet.
veröffentlicht in: Telepolis