29. September 2009

Westerwelle schreckt uns nicht

Wladislaw Below, Leiter der Deutschland-Forschung am Moskauer Europa-Institut, erwartet keine Brüche in den deutsch-russischen Beziehungen unter Schwarz-Gelb

Freitag: Erwarten Sie, dass es unter einem möglichen Außenminister Westerwelle Änderungen in den deutsch-russischen Beziehungen gibt?

Wladislaw Below: Ich erwarte nichts Unerwartetes und widerspreche denen, die behaupten, dass Guido Westerwelle mehr anti-russisch gestimmt ist als die Minister in der bisherigen deutschen Regierungskoalition. Ich kenne keine Äußerungen Westerwelles, die Anlass gäben, ihn einen anti-russischen Politiker zu nennen. Ich glaube, seine kritischen Äußerungen zu Russland sind genauso kritisch wie die von Frau Merkel oder Herrn Steinmeier, nicht mehr und nicht weniger.

Als Außenminister wird Westerwelle das Konzept der Modernisierungspartnerschaft von Steinmeier fortsetzen. Diese Partnerschaft gibt Deutschland die Möglichkeit, kritisch zu sein und gleichzeitig die Beziehungen mit Russland zu entwickeln. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass Frau Merkel in der Außenpolitik viel zu sagen hat.

Russland befürchtet also keinen stärker pro-amerikanischen Kurs in Berlin?

Aber pro-amerikanisch, das ist doch sehr gut, denn Obama spricht jetzt pro-russisch. Auch Steinmeier hat Russland aufgerufen, das Fenster der Möglichkeiten, welches Obama für die Russen geöffnet hat, nicht zu schließen. Wir – das heißt Russland und Deutschland – wünschen, dass Obama Glück mit seinen Reformen und seinen außenpolitischen Ansätzen hat. Damit meine ich auch die konventionelle und nukleare Abrüstung.

Das russische Fernsehen berichtet ausführlich über die Homosexualität Westerwelles. Ist das für die Russen jetzt ein Schock?

Für eine bestimmte Schicht von Russen ist das eine Freude. Es gibt genug Homosexuelle bei uns. Ich kenne sehr viele Russen, für die ist das zwar kein Schock, aber die sagen: „Das ist unangenehm. Wir akzeptieren das nicht.“ Die Mehrheit jedoch denkt nicht so. Sicher ist die russische nicht die deutsche oder europäische Toleranz. Aber ich würde sagen, Westerwelle wirkt in seinem Auftreten weit bescheidener als Wowereit.

Welche Folgen hat die Wahlniederlage der Sozialdemokraten für die Politik in Europa und Russland? Gibt es jetzt einen Siegeszug neoliberaler Politik?

Die Bundestagswahlen sind kein Ausdruck eines neoliberalen Siegeszuges sondern Ausdruck einer Krise der Volksparteien. Auch CDU und CSU haben sehr viele Stimmen verloren. Das Problem sind die Politiker selbst. Steinmeier verspätete sich mit seinem Wahlprogramm, besaß keine Erfahrung auf der Straße und vermochte es nicht, die Herzen der Wähler anzusprechen. Dass 18 Prozent der Wähler bereit gewesen wären, für den Komiker Horst Schlämmer zu stimmen, gibt zu denken. Mangelndes Interesse an Wahlen und Politikern ist ein Problem jeder modernen Gesellschaft. In Russland gibt es gegenüber den Parteien überhaupt kein Vertrauen, so dass niemand weiß, wie man die Wählerschaft in unserem Land organisieren und die Interessen der Menschen vertreten kann. Wir haben bald Wahlen zum Moskauer Stadtparlament, und ich sehe auf den Straßen, dass die Leute von den Werbezettel-Verteilern nichts nehmen.

Das Interview führte Ulrich Heyden

"der Freitag"

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