„Naziki“ und „Karateli“
An der Pforte des Heims sitzt eine Gruppe älterer Frauen aus dem Dorf Krasnyj Jar, das wie Jubilejnoje auf dem Gebiet der nicht anerkannten Volksrepublik Lugansk liegt. „Wir lebten dort praktisch an der Front“, sagt eine Frau mit schlohweißem Haar und roter Hose, die sich auf ihren Krückstock stützt. „Die Naziki hatten ihre Stellungen drei Kilometer von unserem Dorf entfernt. Wir sahen sie, und sie sahen uns. Was sie über uns dachten, wissen wir nicht. Wir wollen einfach in Frieden leben und unsere Kinder großziehen.“ Mit „Naziki“ (Nazis) oder „Karateli“ (Strafbatailloner) sind Soldaten des nationalistischen Freiwilligenkorps Aidar gemeint, das im August 2014 das Dorf Krasnyj Jar mit Panzergranaten beschossen hat. Die Frau mit dem Krückstock erinnert sich, ihre Kinder seien auf der Flucht „vor den Naziki“ zusammen mit 130 anderen in eine Kirche gesperrt worden. „Ohne Wasser. Sie wollten die Kirche anzünden.“ Zum Glück ist es aber nicht dazu gekommen. Und jetzt? Wo sollen wir hin? Wieder in Häuser ziehen, in denen es kein einziges Fenster mehr gibt, dafür jede Menge zerschossener Dächer?“
Wenigstens helfe inzwischen das Internationale Rote Kreuz, damit sie irgendwann zurückkämen. Es seien Balken, Holzplatten, Schiefer und Nägel geliefert worden. Lebensmittel schicke Russland. Trinkwasser werde es vorerst nicht geben. „Das müssen wir dann eben wie Pferde in unsere Häuser schleppen“, sagte eine vielleicht 70-jährige Rentnerin. Bis es so weit sei, wollten sie im Flüchtlingsheim bleiben. Schließlich bekämen sie hier Medikamente umsonst. Daran wäre zu Hause, in Krasnyj Jar, nicht im Traum zu denken.
In einer anderen Sitzecke komme ich mit der 60-jährigen Raissa Iwanowna ins Gespräch. Einst war sie Chefbuchhalterin des Quecksilber-Kombinats von Gorlowko, einer Stadt nordöstlich von Donezk und damit an der Waffenstillstandslinie. „Ich habe bis zum Schluss gearbeitet“, erzählt Raissa mit ihren weißblonden Locken nicht ohne Stolz. Irgendwann ging es nicht mehr. „Unser Verwaltungsgebäude wurde bombardiert und zerstört.“ Das Unternehmen mit einst 3.000 Mitarbeitern sei derzeit stillgelegt. Es werde nur noch Wasser aus den Schächten abgepumpt, das sei alles.
Raissa lebte am Stadtrand von Gorlowka. „Die Stadt wird bis heute beschossen“, erzählt sie. Nur im Zentrum sei es ruhig, „besonders dann, wenn die OSZE zur Beobachtung eintrifft“, fügt sie lachend hinzu. Wo ihr Haus stehe, gebe es ständig Angriffe von kleineren ukrainischen Einheiten. Darum und weil ihre Mann herzkrank sei, hätten sie fliehen müssen.
Nicht die ganze Familie Raissas blieb während der Bombardierungen bei klarem Verstand. Eine Schwester wurde psychisch krank. „Wegen der Angriffe saß sie anderthalb Jahre im Keller und wollte irgendwann nicht mehr raus. Mein Sohn hat uns dann für drei Monate auf die Krim geholt, bevor es nach Russland, hierher in die Bucht von Taganrog ging.
Was jetzt in der Ukraine passiere, sei vergleichbar mit dem, was man über den Bürgerkrieg von 1918 in Russland nachlesen könne, meint Raissa. „Viele Familien sind in zwei Lager gespalten. Die ukrainische Propaganda behauptet, in Donezk und Lugansk lebten seit jeher Separatisten. Dabei waren das früher die beiden am stärksten industrialisierten Gebiete, von denen das ganze Land ernährt wurde.“ Und ihre Freundin Natalja wirft ein: „Wenn die Ukraine sich von uns abgetrennt hätte, hätten wir sie nicht daran gehindert.“
Dass die Grenze zwischen Russland und den beiden Volksrepubliken Donezk und Lugansk – wie im Minsker Abkommen vorgesehen – jemals wieder unter Kontrolle der Ukraine gerät, glauben die Frauen nicht. „Nach so vielen Toten ist das unmöglich“, glaubt Raissa. Und überhaupt, sie wolle Staatsbürgerin Russlands werden. Der Oligarch Petro Poroschenko sei nicht ihr Präsident.
Die 36-jährige Natalja will mit den drei Kindern in ihr Dorf Bestschanoje bei Donezk heimkehren. Noch habe sie Angst. „Es wird weiter geschossen. Aber die Kinder zieht es nach Hause. Sie haben dort ihre Freunde.“ Nach der Flucht im Sommer 2014 lebte sie zunächst in einem Zeltlager, im Winter dann in einer festen Unterkunft. Viele Flüchtlinge habe es in Russland bis weit in den Fernen Osten verschlagen, um Arbeit und Wohnraum zu finden. Eine Freundin habe Arbeit in einer Brotfabrik gefunden. „Wer in Russland arbeiten will, findet auch Arbeit“, wirft Raissa ein, mit ihren 60 Jahren die älteste und erfahrenste Frau in der Gruppe.
Beim Rundgang durch das Flüchtlingsheim werde ich von Alexander Tretjakow aus der Verwaltung des Neklinowski-Bezirks begleitet. Er erzählt, im Vorjahr selbst drei Familien aus der Ukraine aufgenommen zu haben. Besonders erschüttert sei er von einer Erfahrung, die er eines Nachts machen musste, als die ersten Flüchtlingskinder im Heim ankamen. „Da startete in der Stadt Taganrog ein Flugzeug. Die Kinder liefen augenblicklich auseinander, versteckten sich hinter Bäumen oder warfen sich auf den Boden. Ich habe geweint. Manche haben wir lange gesucht.“
„Hoffentlich fängt der Krieg nicht wieder an“, sagt die Frau mit dem schlohweißen Haar aus dem Dorf Krasnyj Jar. Sie hat in den letzten beiden Jahren viel durchmachen müssen. Das Leben im Kinderheim an der Taganrog-Bucht ist da wie ein kurzer Sonnenstrahl.
veröffentlicht in der Freitag Ausgabe 10/16.