16. December 2022

Wie reagieren der Kreml, die Bevölkerung und die Opposition auf Krieg und Sanktionen? (Overtone)

Mos.ru, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons
Foto: Mos.ru, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons

16. Dezember 2022  Ein Kommentar

Über die Stimmung in der russischen Bevölkerung, Meinungsumfragen, die russische Opposition und die Berichterstattung der russischen Medien zu Themen wie Mobilisierung, Sanktionen, Wirtschaft und Krieg ist in Deutschland wenig bekannt.

Ulrich Heyden, der seit 1992 in Moskau lebt, hat am 10. Dezember per Video-Schaltung auf dem „Friedensratschlag“ in Kassel über die Stimmung in Russland berichtet. Wir veröffentlichen seinen Vortrag. Angesprochen wird auch die überraschende Äußerung von Angela Merkel gegenüber „Der Spiegel“ und „Die Zeit“, sie habe das Minsker Abkommen initiiert, um der ukrainischen Armee Zeit zu geben, sich vorzubereiten.

Wladimir Putin erwartet für 2022 einen Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts um 2,9 Prozent. Die russische Wirtschaft ist trotz Sanktionen nicht zusammengebrochen. Der von Annalena Baerbock erhoffte Ruin Russlands ist nicht eingetreten. Russlands hat seine wirtschaftlichen Beziehungen neu Richtung Asien, Türkei und Lateinamerika neu orientiert.

Russlands Einkünfte aus dem Öl- und Gasgeschäft betrugen in den ersten elf Monaten dieses Jahres 159 Milliarden Euro. Sie liegen weit über den Gesamteinkünften des gesamten Jahres 2021, die bei 147 Milliarden lagen.

Wie sich die neuen Sanktionen von EU und G7 gegen den Export von russischem Öl über Meere und der Einführung einer Preisobergrenze auf den russischen Öl-Export auswirken werden, ist noch nicht klar. Selbst China und Indien, die größten Kunden Russland neben Europa werden sich diesen Sanktionen nicht völlig widersetzen können, kommentierte die Regierungszeitung Rossiskaja Gaseta.

Der russische Vizepremier Aleksandr Nowak erklärte, man werde Öl nur nach Marktpreisen verkaufen. Wenn nötig werde man die Produktion sogar senken.

Russland lässt sowjetisches Passagierflugzeug neu auflegen

Wegen der westlichen Sanktionen muss Russland seinen Flugzeugpark komplett erneuern. Ausländische Flugzeuge machen bisher den Großteil des Bestandes aus, werden aber wegen der Sanktionen nicht mehr vom Westen gewartet. Auch Ersatzteile aus dem Ausland werden nicht mehr geliefert.

Nun hat Aeroflot 339 Flugzeuge aus russischer Produktion bestellt. Der Großteil der Bestellungen entfällt auf die MS 21, das erste russische Mittelstreckenflugzeug, das nach dem Ende der Sowjetunion entwickelt wurde.

Weitere 40 Bestellungen von Aeroflot entfallen auf die Tupolew 214, ein Flugzeug mit 210 Sitzen, welches gegen Ende der Sowjetunion entwickelt, dass dann aber von Boing und Airbus vom russischen Markt verdrängt wurde.

Nun soll die Produktion der Tupolew 214 für den Liniendienst wieder aufgenommen werden. Das Mittelstreckenflugzeug kommt mit einem Minimum an ausländischen Komponenten aus, verbraucht aber zehn Prozent mehr Treibstoff als die ausländischen Analoge.

Moskau baut

Trotz der schwierigen Außenwirtschaftsbeziehungen, gehen die von der Moskauer Stadtverwaltung initiierten Bauvorhaben in der 13-Millionen-Menschen-Stadt ohne Verzögerung weiter. Wie der Leiter der Moskauer Bauverwaltung mitteilte, wurden 2022 11,3 Millionen Quadratmeter Immobilien, davon die Hälfte Wohnfläche fertig gestellt. Das seien 30 Prozent mehr als geplant. 85 Prozent der Baumaßnahmen würde von privaten Firmen durchgeführt.

Sinkende Realeinkommen

Allerdings müssen die Menschen in Russland bei den Einkommen jetzt kürzer treten. Nach Angaben des russischen Statistikamtes ging die Summe des real verfügbaren Einkommens in den neun Monaten dieses Jahres um 1,7 Prozent zurück. 15 Millionen Russen – das sind zehn Prozent der Bevölkerung – leben in Armut. Das heißt sie haben ein Einkommen von weniger als 207 Euro.

Wird Putin 2024 nochmal kandidieren?

Was wird aus Putin, fragen westliche Medien immer wieder. Sie attestieren ihm die schlimmsten Krankheiten. Doch nichts davon bestätigte sich.

2024 wird in Russland der Präsident neu gewählt. Putins Sprecher erklärte Anfang November der Präsident habe noch keine Entscheidung getroffen, ob er wieder kandidieren werde.

Westlich orientierte Kommentatoren im russischen Internet hoffen, dass Putin es nicht einfach haben wird, wieder zu kandidieren, da eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation sehr wahrscheinlich und ein eindeutiger russischer Sieg in der Ukraine nicht zu erwarten sei.

Vertreter des russischen Staatsapparates wie der ehemalige Ministerpräsident Sergej Stepaschin erklärten, ein Präsident könne nicht ewig im Amt bleiben, aber die internationale Situation lasse keinen Wechsel in der russischen Führung zu.

Entmachtung der liberalen Wirtschaftspolitiker

Mit Beginn der „Spezialoperation in der Ukraine“ – wie man in Russland sagt – hat sich die Position der liberalen, westlich orientierten Kräfte in der russischen Politik und Medien weiter verschlechtert. Führende russische Politiker reden nicht mehr von „unseren westlichen Partner“, sondern vom „kollektiven Westen“. Das Wort „Gegner“ gebraucht die russische Führung für den Westen bisher nicht.

Mit Beginn dieser Spezialoperation in der Ukraine haben weitere bekannte liberale Führungsfiguren, die gute Kontakte zu westlichen Politikern und Unternehmern hatten, ihre Posten im Staatsapparat verlassen. Das ist seit dem Machtantritt von Putin im Jahr 2000 ein fortlaufender Prozess.

Anatoli Tschubais, unter Boris Jelzin verantwortlich für die Privatisierung der Staatsbetriebe und später Leiter des staatlichen Unternehmens Rosnano, hat Russland im März 2022 verlassen. Tschubais war zuletzt Beauftragter des russischen Präsidenten für internationale Beziehungen und nachhaltige Entwicklung. Tschubais erkrankte im Juli in Italien an einer seltenen Krankheit. Im August 2022 kam er zur Rehabilitation nach Deutschland.

Alexej Kudrin räumte im November seinen Posten als Leiter des russischen Rechnungshofes. Kudrin war 2000/2001 russischer Finanzminister. Er war die letzte starke Stimme in der russischen Politik, die unablässig für die Reduzierung des Staatsanteils in der Wirtschaft eintrat. Nun arbeitet Kudrin als Berater für Unternehmensentwicklung bei der russischen Internet-Suchmaschine Yandex.

Westlich orientierte Medien eingestellt

Alle großen liberalen, westlich orientierten Medien mussten mit Beginn der Spezialoperation ihre Tätigkeit einstellen. Die russischen Aufsichtsbehörden monierten, dass die westlich orientierten russischen Medien den inhaftierten Aleksej Navalny unterstützten oder Geschichtsrevisionismus betrieben. So hatte etwa der oppositionelle Fernsehkanal „Doschd“ behauptet, der Tod von einer Million Menschen in Leningrad im Zweiten Weltkrieg hätte verhindert werden können, wenn Stalin die eingekesselte Stadt aufgegeben hätte.

Am 27. März organisierte der Chefredakteur der liberalen Novaja Gaseta Dmitri Muratow ein Interview mit dem ukrainischen Präsidenten Selenski. Die russische Medien-Aufsichtsbehörde forderte, das Interview nicht zu veröffentlichen. Am 28. März stellte die Nowaja Gaseta ihr Erscheinen ein. Anfang September wurde der Zeitung die Lizenz entzogen. Im Oktober verbot das Oberste Gericht Russlands die Website der Novaya Gaseta. Man kann sie in Russland jetzt nur noch über VPN lesen.

Ähnlich erging es dem liberalen Radio Echo Moskau und dem Fernsehkanal Doschd, letzter auch unter dem Namen Rain bekannt. Die russische Staatsanwaltschaft setzte die Einstellung dieser beiden Medien durch. Der Vorwurf lautete, Echo und Doschd hätten falsch über die russische Spezialoperation in der Ukraine berichtet.

Ausweg für die Opposition: YouTube

Viele Linke und Liberale wichen wegen dem sich einschränkenden Medienraum auf YouTube aus, wo man sie in Russland weiterhin sehen kann. Dabei bemüht man sich um vorsichtige Formulierungen, um nicht mit den russischen Gesetzen in Konflikt zu kommen.

Am 9. Dezember verurteilte ein Moskauer Gericht den Oppositionspolitiker und Bezirksabgeordneten Ilja Jaschin zu achteinhalb Jahren Haft, weil er das Ansehen der russischen Armee geschädigt und behauptet habe, Russland hätte in Butscha bei Kiew Kriegsverbrechen begangen. Als Putin von einem Journalisten des Kommersant auf den Fall angesprochen wurde, erklärte der Präsident, „der Blogger“ habe das Recht in Berufung zu gehen.

Die Straßenaktionen liberaler Kräfte gegen den Krieg in der Ukraine, die es im Frühjahr noch gab, gibt es nicht mehr. Doch vereinzelt sieht man auf Parkbänken die mit Kreide gemalte Parole „Nein zum Krieg“. Neulich saß mir in der U-Bahn eine Frau gegenüber, die hatte sich an ihren Mantel ein zehn Zentimeter große rechteckige Plakette geheftet mit der Aufschrift „Lew Tolstoi – Krieg und Frieden“. Das Wort Krieg war durchgestrichen.

Seit Corona keine Demonstrationen mehr

Man muss wissen: Seit der Corona-Zeit gibt es in Russland keine Demonstrationen der Opposition mehr. Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes FOM liegt das Protestpotential in Russland mit 20 Prozent jedoch konstant hoch.

Auch die Kommunistische Partei konnte im letzten Jahr nur Treffen mit Abgeordneten unter freiem Himmel organisieren. Die Kommunistische Partei unterstützt allerdings die Spezialoperation in der Ukraine.

Der linke ehemalige Diplomat Nikolai Platoschkin, der wegen seinem Protest gegen die Änderung der Verfassung zur Verlängerung von Putins Amtszeit fast ein Jahr im Hausarrest saß, ist in zahlreichen YouTube-Talkshows aktiv und tritt gemeinsam mit Politikern der KPRF auf. Platoschkin darf allerdings mehrere Jahre nicht für politische Ämter kandidieren.

Wie denken die Russen über den Krieg in der Ukraine?

Der Krieg in der Ukraine ist für die Russen zurzeit die größte Sorge. Im November machten sich nach einer Umfrage des regierungsunabhängigen Lewada-Zentrums 80 Prozent der Befragten wegen dem Krieg in der Ukraine Sorgen.

Nach der Umfrage unterstützen 74 Prozent der Russen das Vorgehen der russischen Armee. 20 Prozent unterstützen es nicht. Das Umfrageergebnis stimmt überein mit dem was ich in Gesprächen mit Russen höre.

Deutlich wurde bei der Umfrage, dass es unterschiedliche Betroffenheit bei Jugendlichen und älteren Menschen gibt. Unter den Menschen über 54 sind 90 Prozent über den Krieg besorgt. Unter den Jugendlichen unter 24 Jahren sind dagegen nur 66 Prozent, besorgt.

Vor die Alternative gestellt, Fortführung des Krieges oder Verhandlungen, sind 41 Prozent der befragten Russen für eine Fortführung des Krieges, 53 Prozent sind für die Aufnahme von Verhandlungen. Unter den Jugendlichen unter 25 Jahren ist der Teil derjenigen, die für die Aufnahme von Verhandlungen sind mit 68 Prozent besonders hoch. Nur 21 Prozent der Jugendlichen sind nach der Lewada-Umfrage für die Fortführung des Krieges.

Bei der Lewada-Umfrage gab es keine Frage, nach der Effektivität der Kriegsführung.

In persönlichen Gesprächen höre ich aber, dass viele Russen sich eine härtere Kriegsführung wünschen. Viele wünschen sich die Bombardierung des Amtssitzes von Selenski und die Bombardierung der Wege auf denen die Nato-Staaten ihre Waffen in die Ukraine liefern.

Was ist das Kriegsziel?

Unklar ist vielen Russen, was Russland in der Ukraine exakt erreichen will. Diese Frage wird immer drängender, da sich die Front nur noch wenig verändert. Putins Sprecher erklärte in den letzten Tagen, es gehe jetzt vor allem darum, den „noch okkupierten Teil der Volksrepublik Donezk“ zu befreien.

Im Süden der Ukraine liegt die ukrainische Front nur ein paar Kilometer von den Außenbezirken der Großstadt Donezk und nur zehn Kilometer von dem Stadtzentrum von Donezk entfernt, weshalb in der Stadt fast täglich Menschen durch Beschuss mit HIMARS-Raketenwerfern getötet werden. Ein russischer Oberst erklärte, nur wenn es gelänge die Front von Donezk 100 Kilometer nach Norden zu verschieben, sei die Stadt außerhalb der Reichweite der ukrainischen Artillerie.

Die Erwartung, dass Putin die russischen Minimalziele beschreibt, ist in der russischen Gesellschaft gestiegen, denn die russischen Truppen mussten zweimal große Gebiete räumen. Die Einnahme der Städte Slawjansk und Kramatorsk, die im Sommer noch ganz oben auf der Prioritätenlisten standen, ist durch den Verlust eines großen Teils der Charkow-Gebietes in weite Ferne gerückt. Schon seit vier Monaten wird um die Stadt Bachmut gekämpft, die auf dem Weg nach Slawjansk liegt.

Ukraine im Kalten

Die russische Armee zerstört seit dem 11. September mit Lenkwaffen ukrainische stromerzeugende Unternehmen, Verteilerstationen, Transformatoren und Überlandleitungen.

Die ukrainischen Behörden geben an, 40 Prozent der Stromleitungen seien zerstört. Vertreter des ukrainischen Staates erklärten, dass die Bevölkerung den ganzen Winter über mit Stromabschaltungen rechnen muss.

Diese Art der russischen Kriegsführung bringt den Westen unter Druck. Denn müsste der Westen jetzt nicht statt Waffen Decken, Generatoren und medizinisches Personal für die Millionen Ukrainer schicken, die im Kalten sitzen?

Stand der Mobilisierung

Am 7. Dezember erklärte Wladimir Putin bei einem Treffen mit russischen Menschenrechtlern, dass von den 300.000 Männern, die mobilisiert wurden, 150.000 – also die Hälfte – bei den Streitkräften eingegliedert worden sind. 77.000 mobilisierte Soldaten befänden sich direkt an der Front. Eine weitere Mobilisierung von Soldaten „mache keinen Sinn“.

Die russischen Menschenrechtler bedankten sich bei Putin, dass er die Studenten in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk vom Wehrdienst befreit hat. Außerdem baten die Menschenrechtler, dass der russische Präsident noch eine Gruppe von der Front zurückrufe, nämlich diejenigen, die Prothesen herstellen. Der Präsident versprach, bei der Regierung eine Gruppe einzurichten, die sich speziell um die gesundheitliche Wiederherstellung der Soldaten und auch um die Frage der Prothesen kümmere.

Was die Prothesen betrifft gibt es – so die Menschenrechtler – noch Probleme. Einzelteile für Prothesen müssten aus Deutschland importiert werden. Den Soldaten mangele es auch an Winterkleidung und den Ärzten an einfachem Verbandsmaterial. Putin erklärte – wie Moskowski Komsomolez schrieb  – mit schlecht verborgenem Erstaunen, dass diese Probleme bereits gelöst seien, versprach aber den Verteidigungsminister zu informieren.

Angriffe auf russisches Territorium

Die politische Elite in Kiew zeigt, dass sie alle Register zu ziehen bereit ist. Der Kiewer Journalist Dmitri Gordon rief dazu auf, den Roten Platz in Moskau zu bombardieren. Die Ukraine verfügt mit der Raketenfabrik Juschmasch in Dnjepr über ein Zentrum der sowjetischen Raketenproduktion. Seit Jahren drohen ukrainische Nationalisten mit dem Einsatz von weitreichenden Raketen.

Am 5. Dezember schoss die russische Flugabwehr bei den Flugplätzen Engels und Rjasan ukrainische Strisch-Drohnen ab. Ein strategisches russisches Langstreckenflugzeug, dass auch Atomwaffen befördern kann, wurde – wie auf Fotos zu sehen ist – am Heckteil beschädigt.

Nach Meinung russischer Experten verfügt die Ukraine noch über 150 Strisch-Drohnen, die zu Sowjetzeiten in Charkow entwickelt wurden. Die Drohne kann 1.100 Kilometer weit fliegen.

US-Außenminister Antony Blinken erklärte, die USA würden der Ukraine nicht dabei helfen, Schläge auf das Territorium Russlands auszuführen. US-Verteidigungsminister Loyd Ostin aber erklärte laut CNN, die USA würden die Ukraine nicht daran hindern, Waffen für Schläge zu entwickeln, die das russische Territorium treffen können.

Sehr offene Worte von Merkel zum Minsker Abkommen

Angela Merkel erklärte am 24. November gegenüber dem „Spiegel“ und danach – am 7. Dezember – gegenüber der „Zeit“ überraschend, dass das Minsker Abkommen 2015 zustande kam, um der Ukraine Zeit zu geben seine Armee aufzurüsten.

Einen Tag später machte auch Wladimir Putin eine bemerkenswerte Äußerung. Bei einem Treffen mit russischen Müttern von mobilisierten Soldaten erklärte der russische Präsident, Russland hätte in der Ukraine viel eher eingreifen müssen. Man wisse jetzt, „dass die Vereinigung (der Volksrepubliken Donezk und Lugansk) mit Russland früher hätte stattfinden müssen. Dann hätte es vielleicht nicht so viel Verluste in der Zivilbevölkerung und nicht so viele durch Beschuss getötete Kinder gegeben.“

Unter den Russen erhielt Merkel bisher immer ausgesprochen viel Lob. Dies hängt auch damit zusammen, dass die russischen Medien meist sehr positiv über Merkel berichteten. Zumindest berichteten sie so, als sei mit Merkel für Russland noch nicht alles verloren.

Die Zeitung „Moskowski Komsomolez“ kommentierte nun im bitteren Ton:

„Der Westen braucht jetzt nicht mehr zu verheimlichen, dass das Minsker Abkommen ein Täuschungsmanöver war. Denn es hat geklappt. Die ukrainische Armee wurde acht Jahre lang mit Waffen vollgepumpt, die ukrainischen Streitkräfte wurden zu einer richtigen regulären Armee umgebaut. Sie erwarb militärische Erfahrung, indem sie den Donbass ständig beschoss. Dem Donbass wollte man keine Autonomie geben. Man wartete nur auf eins, die gewaltsame Eroberung des Donbass und die Vernichtung alles Russischen.“

Leider – so die russische Tageszeitung weiter – sei „die Idee, sich mit dem Westen friedlich einigen zu können und Kompromisse zu machen in Russland immer noch verbreitet“. Dabei würden die Interessen der russischen Bevölkerung in der Ukraine wieder übergangen. „Die Händler – im vollen Sinne des Wortes – sind stark. Und so lange das so ist, ist die neue Lektion von Frau Merkel nicht von Nutzen. Es gibt das klassische Zitat: Geht ein Dummkopf in den Wald und sucht einen noch größeren Dummkopf.“

Mit dem noch größeren Dummkopf meint „Moskowski Komsomolez“ zweifellos die Russen selbst.

2014: „Wir marschieren bis nach Kiew“

Man muss verstehen: Der Kreml hat sich in der Ukraine von 2014 bis 2022 viel zurückhaltender verhalten, als es sich die Bevölkerung der Volksrepubliken und ein großer Teil der russischen Bevölkerung wünschte.

Viele Russen hofften 2014 nach dem Staatsstreich in der Ukraine, dass Russland die Volksrepubliken Donezk und Lugansk militärisch aktiv unterstützt und einen Vormarsch pro-russischer Freiwilliger aus Donezk und Lugansk Richtung Kiew zulässt.

Doch Moskau bremste die Freiwilligen, die 2014 auf meine Nachfrage freimütig erklärten, „wir ziehen bis Kiew“.

Die Freiwilligen aus den Volksrepubliken und Russland waren 2014/15 beflügelt von ihren militärischen Erfolgen. Anfang Februar 2015 wurden bei Debalzewo 3.000 ukrainische Soldaten eingekesselt. Sie durften ohne Waffen abziehen.

Die ukrainische Armee war 2014 nicht kampffähig. Im Frühjahr 2014 liefen auf der Krim Teile der ukrainischen Streitkräfte zu den Russen über oder ergaben sich kampflos.

In dieser Situation zogen Angela Merkel und der damalige französische Präsident Francois Hollande die Reißleine. Auf ihre Initiative wurde das Minsker Abkommen unterzeichnet, in dem ein Waffenstillstand, Wahlen, Entmilitarisierung und ein Autonomie-Status für die „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk vereinbart wurde.

2014 – Eine schwache ukrainische Armee

Wenn Russland 2014 in die Südostukraine einmarschiert wäre, dann wären die russischen Truppen dort als Befreier begrüßt worden, hört man jetzt von Russen, die sich schon lange mit der Situation im Donbass beschäftigen. Aber jetzt sei es viel schwieriger. Viele Ukrainer haben Angst. Wer gibt ihnen die Garantie, dass Russland die von ihm eroberten Gebiete nicht wieder hergibt und man Opfer ukrainischer Filtrationsmaßnahmen wird?

Moskau setzte zu 100 Prozent auf die Umsetzung des Minsker Abkommen. Russlands militärische Zurückhaltung wird von deutschen Mainstream-Medien komplett ausgeblendet. Stattdessen wird in Endlosschleife vom „russischen Expansionismus“ gesprochen.

Warum hat Moskau nicht schon 2014 in der Ukraine eingegriffen, so wie es auf der Krim eingegriffen hat? Im russischen Internet liest man die These, Russland habe noch nicht die nötigen weitreichenden Lenkwaffen gehabt, die einen Krieg aus der Distanz möglich machen. Auch ist die Meinung zu hören, die russischen Rohstoffexporteure, die 30 Jahre lang das russische Wirtschaftsleben dominierten, hätten aus Angst vor Geschäftseinbußen kein Interesse an einer militärischen Konfrontation mit dem Westen gehabt.

Für die meisten Russen ist heute klar, dass sie vom Westen über den Tisch gezogen wurden. Diese Erkenntnis stärkt den russischen Patriotismus. Aber das werden die Journalisten des deutschen Mainstreams wohl niemals einsehen.

veröffentlicht in: Overtone Magazin

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