6. January 2025

Wieder ein gezielt getöteter russischer Journalist im ukrainisch-russischen Kriegsgebiet (Overton-Magazin)

Das Auto von Martemjanow und anderen Journalisten. Foto: Iswestija
Foto: Das Auto von Martemjanow und anderen Journalisten. Foto: Iswestija

6. Januar 2025 28 Kommentare

Die ukrainischen Drohnen-Piloten haben wieder zugeschlagen. Am Abend des 4. Januar explodierte eine ukrainische Kamikaze-Drohne direkt über dem russischen Journalisten Aleksandr Martemjanow, der in einem Auto saß. Der 34jährige Martemjanow war seit 2014 freier Mitarbeiter des russischen Internet-Portals „Iswestija“. Die Drohne, die ihn tötete, war vom Typ FPV. Sie übermittelt dem Piloten – fernab des Kampfgebietes – das visuelle Umfeld des Einsatzortes. Nach russischen Angaben starben seit 2014 im Zusammenhang mit dem Krieg im Donbass 34 Journalisten. Internationale Organisationen haben zu diesen gezielten Morden weitgehend geschwiegen.

Vier weitere Journalisten, die zusammen mit Martemjanow währen des Drohnen-Angriffs in einem Auto fuhren, wurden verletzt, konnten das Fahrzeug aber aus eigener Kraft verlassen. Das russische Ermittlungskomitee eröffnete ein Strafverfahren wegen Mordanschlag und der gezielten Zerstörung von Eigentum.

Scharfschützen und Drohnenpiloten versuchten russische Journalisten zu töten, „um die Stimme der Wahrheit zum Schweigen zu bringen“, erklärte der Vorsitzende der Union der Journalisten Russlands, Wladimir Gennadijewitsch Solowjow.

Scharfe Kritik vom russischen Außenministerium an internationalen Organisationen

Die Sprecherin des russischen Außenministerium Maria Sacharowa erklärte, alle Verantwortlichen für die Verbrechen gegen Journalisten würden zur Rechenschaft gezogen. Die internationalen Strukturen auf dem Gebiet der Menschenrechte und der Pressefreiheit würden die Verbrechen des Selenski-Regimes ignorieren.

Wie kam es zu dem Mord an dem Iswestija-Mitarbeiter Martemjanow? Der Journalist war am Sonnabend zusammen mit Kollegen auf dem Weg von der Stadt Gorlowka in die Stadt Donezk. Die Wohngebiete von Gorlowka waren am Samstag schwerem ukrainischem Beschuss ausgesetzt gewesen. Die Journalisten fuhren in zwei Autos.

Die Journalistin Isabella Liberman vom Magazin „Notizbuch Donezk“, die mit Martemjanow in einem Auto nach Donezk zurückfuhr, berichtete gegenüber der Nachrichtenagentur Tass, man sei nach Gorlowka gefahren, um einer Kirche, die in einem Gebiet liegt, welches beschossen wurde, humanitäre Hilfe zu übergeben.

In den beiden Autos hätten außer ihr selbst die „Notizbuch“-Redakteurin Swetlana Larina, Aleksandr Martemjanow und zwei Journalisten von der Nachrichtenagentur Ria Novosti gesessen.

Nur mit Mühe habe man die Stadt Gorlowka verlassen können. In Gorlowka habe es am Samstag sehr starke Drohnen-Attacken gegeben. Die beiden Drohnen-Detektoren, welche die Journalisten dabei hatten, hätten „vier und fünf“ (höchste Bedrohung) angezeigt. Man habe deshalb mit der Rückkehr nach Donezk zunächst noch in den Höfen der Stadt Gorlowka gewartet.

Isabell Libermann und ganz rechts Aleksandr Martemjanow Foto: Liberman – Iswestija

„Es gibt noch Wunder“

Leider habe das Auto von Martemjanow eine Panne gehabt. Mitten in dem Gebiet, welches unter Beschuss lag, habe er einen Reifen gewechselt. Aber auch der Ersatzreifen sei irgendwann platt gewesen. Deshalb hätten sich alle zusammen in ein Auto gesetzt und seien dann weiter Richtung Donezk gefahren. Martemjanow habe auf dem Beifahrersitz gesessen und dem Fahrer den Weg gesagt. Die Journalistin Liberman sagte, sie habe direkt hinter Martemjanow gesessen.

Die Drohne sei über dem Dach des Autos explodiert. „Sascha war sofort tot. Er wurde am Kopf und am Bein verletzt. Er hat die gesamte Wucht der Explosion abbekommen.“ Alle anderen Passagiere hätten das Auto ohne fremde Hilfe verlassen können.

Nachdem die Journalisten Gorlowka verlassen hatten, hätten die Drohnen-Detektoren keine Gefahr mehr angezeigt. Die Explosion über dem Auto kam überraschend. Liberman erzählt, sie habe einen „grellen, gelben Fleck“ gesehen und ein „lautes Geräusch“ gehört.  „Mir schien, dass ich erblindet oder gestorben war.“

Weiter erzählte sie: „Ich kann mir noch nicht vorstellen, dass Sascha (Martemjanow) nicht mehr lebt und was mit uns passierte. Es kommt mir vor wie ein schrecklicher Traum. Man öffnet die Augen und bekreuzigt sich. Aber wir sind im Krieg. Die Besten sterben.“

Flucht in einen Wald

Die Überlebenden der Attacke seien dann in einen Wald geflüchtet. „Von dort wurden wir von Medizinern evakuiert, mit denen wir Kontakt aufgenommen hatten.“

Zum Schluss ihres Berichtes zog Liberman, die durch die Explosion auf einem Ohr nichts mehr hören kann, eine Ikone aus ihrer Tasche und sagte: „Es gibt Wunder. Heute hat mir der Priester diese Ikone gegeben.“ Sie könne nicht sagen, ob alle Insassen des Autos schusssichere Westen anhatten, weil die Westen von Journalisten oft unter der Kleidung getragen werden, um die Bürger nicht abzuschrecken.

Über die ständige Gefahr von Drohnen gerade auch für Journalisten, hatte in einem Interview mit mir auch der deutsche Journalist Patrik Baab berichtet, der im Oktober das von Russland kontrollierte Gebiet im Südosten der Ukraine bereist hatte. Baab berichtete, dass er und seine Begleiter während der Fahrt durch das Kriegsgebiet die Handys ausgeschaltet hatten, um den Drohnen-Piloten die Arbeit nicht zu erleichtern.

Wie der Leiter der Volksrepublik Donezk, Denis Puschilin, berichtete, wird die Stadt Gorlowka unaufhörlich von der ukrainischen Armee beschossen. Besonders betroffen war am Sonntag das Zentrum von Gorlowka sowie der Nikitinski-Rayon der Stadt. Allein am Sonntag habe es 15 verletzte Zivilisten gegeben, berichtete der russischen Fernsehkanal Rossija 24. Das ukrainische Militär setzte Artillerie und Drohnen ein.

Seit 2014 als freier Journalist tätig

Der getötete Journalist Aleksander Martemjanow gehörte mit zu den ersten Korrespondenten, die 2014 über den Krieg im Donbass berichteten. Er berichtete aus verschiedenen Orten in der Volksrepublik Donezk für verschiedene russische Medien. Mehrmals schon war er unter Beschuss geraten. Im Februar 2022 und im Oktober 2023 wurde er durch Splitter verletzt. Aber er führte seine Arbeit als Korrespondent im Kriegsgebiet fort. Artjomow wurden zwei militärische russische Orden „Für Mut“ und „Für den Dienst an der Volksrepublik Donezk“ verliehen.

Der Leiter der Volksrepublik Donezk, Denis Puschilin, lobte den selbstlosen Einsatz von Martemjan für die Menschen in der Volksrepublik. Der getötete Journalist habe, obwohl er keine journalistische Ausbildung hatte, von den Beschießungen der ukrainischen Armee berichtete. Gleichzeitig habe er Ausgebombten und Verletzten praktisch geholfen.

Ukrainische Militärs jagen russische Journalisten

Der letzte große Schlag der ukrainischen Armee gegen einen bekannten russischen Journalisten liegt noch nicht lange zurück. Am 7. August wurde der heute 41 Jahre alte Front-Journalist Jefgeni Poddubnyj bei einem Angriff einer ukrainischen FPV-Drohne nahe der Stadt Sudscha im russischen Gebiet Kursk schwer verletzt.

Die FAZ berichtete damals zwar über den Angriff auf den Journalisten, sie schrieb aber nicht, dass die ukrainische Drohne ganz gezielt gegen das Auto des Journalisten gesteuert wurde.

Dem ukrainischen Geheimdienst SBU war Poddubnyj schon lange ein Dorn im Auge. Am 9. Juli 2022 hatte der SBU den Journalisten beschuldigt, er würde mit seinen Reportagen den russischen Angriff auf die Ukraine und „russische Kriegsverbrechen“ rechtfertigen. Zudem sei der Aufenthalt von Poddubnyj in der Ukraine „ungesetzlich“.

Ungeachtet internationaler Konventionen

Wer Informationen aus dem Kriegsgebiet verbreitet und ein Millionenpublikum hat, gilt der ukrainischen Militärführung – ungeachtet aller internationalen Konventionen zum Schutz der Menschenrechte und der Pressefreiheit – als wichtiges Ziel. Journalisten sollen Angst haben. Die Bevölkerung soll vom Krieg in der Ukraine nur die westliche Sichtweise, nicht die russische oder eine unabhängige Sichtweise, erfahren. Das ist das Ziel derjenigen, die Journalisten angreifen.

Die Haut von Front-Journalist Poddubnyj war nach dem Drohnen-Anschlag zu 20 Prozent verbrannt. Doch inzwischen tritt der Journalist wieder bei patriotischen Empfängen in Russland auf, wie vor zwei Wochen bei der Preisverleihung „Gute Tat“, bei der Militär-Techniker und humanitäre Helfer ausgezeichnet wurden.

Die Brandwunden im Gesicht und an den Händen des Journalisten sind immer noch deutlich zu sehen. Aber der Wille vor einem großen Publikum die eigene Meinung zu sagen, ist ungebrochen.

Lieber schweigen, als „der Ukraine in den Rücken fallen“

Unmittelbar nach dem Maidan und dem Staatsstreich im Februar 2014 in Kiew begann die Jagd auf kritische Journalisten, welche von der ukrainischen Regierung verdächtigt wurden, mit Russland im Bunde zu stehen. Als Handlanger für Mordanschläge standen Ultranationalisten bereit, die von Faschisten nicht zu unterscheiden waren.

Am 16. April 2015 wurde in Kiew der Journalist und Schriftsteller Oleg Busina von Rechtsradikalen ermordet. Am 20. Juli 2016 ermordeten Rechtsradikale in Kiew den liberalen Journalisten Pawel Scheremet, der in Detailfragen Kritik an der Kiewer Regierung hatte. Am 12. Januar 2025 starb in einem ukrainischen Gefängnis der chilenisch-amerikanische Journalist Gonzalo Lira, dem die ukrainischen Behörden „pro-russische Desinformation“ vorwarfen. Zu allen drei Fällen gab es in den großen deutschen Medien keine ausführliche Berichterstattung, geschweige denn Kritik.

Kritik gab vom deutschen Mainstream gab es auch nicht, als ein Berater des ukrainischen Innenministers im August 2014 die Website „Mirotworets“ (Friedensstifter) eröffnete, auf der „Feinde“ der Ukraine – insbesondere Journalisten und Politiker – mit Foto, Lebenslauf und Adresse gelistet wurden.

Diese Website wurde von deutschen Politikern – mit Ausnahme von Andrej Hunko (Die Linke, heute BSW)  – kein einziges Mal öffentlich kritisiert. Lieber nimmt man in Deutschland ein Klima der Einschüchterung hin, als dass man die Regierung der Ukraine kritisiert. Auch Organisationen wie „Reporter ohne Grenzen“ und „Amnesty Internationale“ blieben weitgehend still.

Russische Liste von 32 während des Donbass-Krieges getöteten Journalisten

Mitte Dezember 2022 stellte das Mitglied der russischen Gesellschaftskammer, Aleksandr Malkewitsch, eine Liste von 32 prorussischen Journalisten zusammen, die im Zusammenhang mit dem Krieg im Donbass zwischen 2014 und 2022 ermordet wurden.

Die Liste wurde wenige Tage später von dem Portal „Bloknot (Notizbuch) Donezk“ mit Fotos veröffentlicht. Am Schluss der Liste hat die Redaktion von „Bloknot Donezk“ dann aber noch einen Namen hinzugesetzt, und zwar den des US-Amerikaners Russel Texas Bentley, der sich 2014 den Aufständischen in Donezk als Kämpfer angeschlossen hatte. Die Redaktion von „Bloknot Donezk“ hatte die Ergänzung mit Foto von Russel Bentley wie folgt kommentiert: „Der Amerikaner, Staatsbürger Russlands, Freiwilliger des Donbass, humanitärer Helfer und Korrespondent von ‚Sputnik‘ wurde im Frühjahr 2014 in Donezk ermordet. Für seinen Tod verdächtigt man (russische, U.H.) Militärangehörige. Sie wurden festgenommen.“

Der Fall Russel Bentley ist für Russland nicht angenehm. Denn es werden vier russische Militärangehörige verdächtigt, die Bentley angeblich wegen Geldforderungen erpresst und gequält haben sollen. Die Verdächtigen wurden festgenommen. Ein Gerichtsverfahren hat begonnen (siehe dazu auch meinen Artikel: Donezk: Amerikanisch-russischer Journalist verschollen).

Der Autor dieser Zeilen hat zwischen 2014 und 2022 häufig die Volksrepubliken Donezk und Lugansk besucht. Im August 2022 stand ich in der Volksrepublik Lugansk an einem Grab von Zivilisten, die man während der Kämpfe im Frühjahr 2022 zwischen Mehrfamilienhäusern in Eile verscharrt hatte. Mitten in einem Aufsager für ein Video vor den Gräbern begann ich zu weinen. Beherrschung fiel mir bei dem Leid, das ich im Donbass sah, oft schwer.

Im August 2022 wurde ich Zeuge, wie in Donezk neben dem Park-Inn-Hotel, wo ich zusammen mit anderen Journalisten und Aufbauhelfern wohnte, eine amerikanische Himars-Rakete in den Sitz des Republik-Leiters Denis Puschilin einschlug. Noch nie war ich dem Tod so nahe gewesen.

Die Bürger im Donbass haben sich an diesen Zustand – der einen Besucher in Angst versetzen kann – gewöhnt. Aber ist das so unverständlich, nach über zehn Jahren Krieg?

Meine zwischen 2014 und 2022 in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk gemachten Reportagen und Analysen veröffentlichte ich in dem Buch „Der längste Krieg in Europa seit 1945. Augenzeugenberichte aus dem Donbass“, Tredition, Hamburg.

veröffentlicht in: Overton-Magazin

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