7. November 2007

Zähe Mythen

Die Oktoberrevolution 1917 hat eigene Legenden geschaffen, die sich bis heute halten

Die Erinnerung an die Oktoberrevolution vor 90 Jahren ist nicht nur in Russland von zahlreichen Mythen
und Fälschungen überlagert, meint Professor Juri Afanasjew, Gründer der Geisteswissenschaftlichen
Universität in Moskau.

Der Kreml möchte das Thema am liebsten in der Versenkung verschwinden lassen. Doch für viele Menschen in Russland ist die Oktoberrevolution nach wie vor wichtig, fast so wichtig wieder Sieg im Zweiten Weltkrieg. Auf die Frage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada, „Was würden Sie tun, wenn die Oktoberrevolutionvor ihren Augen abläuft“,antworteten 30 Prozent der Befragten, sie würden die Bolschewiki „aktiv unterstützen" oder mit ihnen „zusammenarbeiten“.„Mit der Oktoberrevolution“, sagt Professor Juri Afanasjew, "verbinden die Menschen den Sieg des Sozialismus, Lenin, die Bolschewiki und die Sowjetunion.“Das sei im Wesentlichen eine positive Bewertung. Dass die Oktoberrevolution auch der Beginn einer Tragödie war, sähen nur wenige. Für den Großteil der Russen sei die Zeit unter Breschnew, also die 80er Jahre, „die goldeneZeit“. Afanasjew sagt, die Menschen bekämen ihr Wissen vor allem aus Filmen, Romanen und Gesprächen mit Freunden und Verwandten. Leider seien Filme und Geschichtsschreibung stark ideologisiert und voller Fälschungen. Eisensteins Film zum Sturm auf das Winterpalais etwa habe mehr etwas mit einem Märchen als mit den historischen Fakten zu tun. „Das ist ein starkes Bild, wie die Matrosen und Soldaten über das hohe Tor klettern. Man bekommt den Eindruck, dass das ganze Volk den Winterpalast stürmt.“ Den Winterpalast brauchte man aber nicht zu stürmen, weil er praktisch nicht bewacht wurde. Im Palast befanden sich Offiziersschüler und ein Frauen-Bataillon. „Es war mehr ein administrativer, kein militärischer Schutz. Vom 24. auf den 25. Oktober (nach dem damalsgültigen Julianischen Kalender) starben in der Stadt Petrograd (heute St. Petersburg) nur drei Menschen.“ Und der Signalschussvom Kreuzer Aurora? „Bis heute gibt es keinen Beleg, dass es diesen Schuss überhaupt gegeben hat.“ Ein sehr eindrucksvolles Bild: Angeblich warteten die revolutionären Soldaten nur auf diesen Signalschuss, um loszuschlagen. „Alle wollten Freiheit und sich niemandem unterordnen“, so schätzt der Wissenschaftlerdie Situation im Rückblick ein. Die Soldaten „stimmten mit den Füßen ab“, sie verließen die Front. Die Arbeiter agierten nach der Devise „wegnehmen und aufteilen“. Diese Devise sei noch heute in Russland populär, sagt der Historiker, der als Komsomol-Kader, Wissenschaftlerund Redakteur selbst zum Sowjet-System gehörte. Doch Ende der 70er Jahre wuchsen seine Zweifel. 1989 wurde er als Volksdeputierter gewählt. Er schloss sich der „Interregionalen Abgeordneten-Gruppe“ an, zu der auch der Physiker und Dissident Andrej Sacharow und der spätere Präsident Boris Jelzin gehörten. Unter der Zaren-Regierung habe es eine scharfe Unterdrückung und schreckliche Lebensbedingungen gegeben, so blickt Afanasjew weiter zurück. Räte und Gewalt, sei die „Kreativität der Massen“ gewesen − so sieht es zumindest der Historiker. „Im Ergebnis gab es einen völligen Zusammenbruch“, die Oktoberrevolution habe zur „Konservierung des russischen Archaismus“ geführt. Das Volk habe die Bolschewiki praktisch „vor sich hergetrieben“, so Afanasjew. Die Bolschewiki wiederum hätten versucht, die Massen zu lenken. Die zarten Ansätze sozialer Strukturen wurden zerstört. Das Bauerntum, die Intelligenz und die Arbeiter als soziale Gruppe hörten auf zu existieren. Leider gebe es heute nur wenige, die bereit seien, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.
So halten sich die Legenden. Auch die um Lenins Tod. Zu Zeiten der Sowjetunion, so Afanasjew, hieß es, er sei „einfach
gestorben“. „Erst nach 1991 wurde bekannt, dass Syphilis eine Rolle spielte. Möglicherweisewar es eine angeborene
Krankheit. Aber das wird Ihnen niemand sagen.“

"Thüringer Allgemeine"

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