24. April 2007

Zar Boris, der Draufgänger


Jelzin führte die Russen im Expresstempo vom Kommunismus in den Kapitalismus, seine Jahre als Präsident spalten das Volk bis heute.


Boris Jelzin war ein Mann großer Gesten, ein Russe mit großer Seele. Dafür liebten ihn seine Landsleute, und deshalb folgten sie ihm viele Jahre. Sie verziehen ihm so manchen Fehltritt. Aber mit seiner überschäumenden Art konnte Jelzin Millionen mitreißen auf dem schwierigen Weg in eine neue Zeit.

Unter seiner Führung kam es in Russland zu einem Epochenwechsel. Jelzin führte Russland im Expresstempo vom Kommunismus in den Kapitalismus. Russland öffnete sich dem Westen. Mit seiner Machtübernahme galten auch in Russland–zumindest formal–demokratische Prinzipien.

Der am 1. Februar 1931 im Dorf Butka im Ural in einer Bauernfamilie geborene Boris Nikolajewitsch Jelzin war aber eine widersprüchliche Persönlichkeit. Mit seinem Namen ist das Ende der Ein-Parteien-Herrschaft verbunden. Die Russen konnten nach seiner Amtsübernahme endlich ungehindert ins Ausland fahren, die Presse verlor ihre Fesseln, das Volk begannen sich seiner gesamten–also auch der nichtkommunistischen Geschichte–zu erinnern. Nach Jahrzehnten konnten Eltern ihre Kinder ohne Angst in den Kirchen taufen.

Aber trotz der neuen Freiheiten erinnern sich die Russen heute nicht gerne an ihren ersten Präsidenten. Da geht es Boris Nikolajewitsch ähnlich wie seinem Widersacher Michail Sergejewitsch Gorbatschow, den er für zögerliche Reformen immer kritisiert hatte. Dass mit Jelzin neue Freiheiten möglich wurden, nehmen die Russen heute wie selbstverständlich hin.

Anfangs ein Mann der Tat

Aber unter Zar Boris, wie Jelzin oft genannt wurde, verlor Russland auch seinen Status als internationale Großmacht. Vielen Russen sind diese Jahre als tiefe außenpolitische und persönliche Erniedrigung in Erinnerung geblieben. Diese Zeit wirft bis heute einen Schatten auf das Land. Als beispielsweise US-Außenministerin Condoleezza Rice jüngst unter Verweis auf die 1990er Jahre dramatische Rückschritte bei den Menschenrechten im heutigen Russland kritisiert, konterte die Staatsmacht unter Putin routiniert. „Auf diese Errungenschaften aus den Jelzin-Jahren können wir gut verzichten“, lautete die Standardformulierung des Kremls, der in dieser Frage eine Mehrheit der Bevölkerung heute hinter sich weiß.

Auch die sozialen Einschnitte durch den Zusammenbruch der Planwirtschaft haben sich bei den Menschen eingeprägt. Dafür entwickelte er Russland zu einem föderalen Staat, in dem nicht nur der Kreml, sondern auch die Gouverneure beträchtliche Macht hatten.

Doch dort, wo man mit Verhandlungen und Fingerspitzengefühl hätte etwas erreichen können, dort versagte Jelzin. Im Oktober 1993 eskalierte der Konflikt mit dem widerspenstigen Parlament, in dem noch viele Kommunisten saßen, zu einem bewaffneten Konflikt. Im Dezember 1994 ließ Jelzin Truppen nach Tschetschenien schicken. In den folgenden zwei Jahren begann ein mörderischer Kampf, bei dem schätzungsweise 800000 schlecht ausgebildete Wehrpflichtige und unschuldige Zivilisten starben. Dabei hatte Jelzin noch 1991 die Völker Russlands aufgerufen: „Nehmt Euch soviel Souveränität, wie Ihr könnt“. Damals waren die nichtrussischen Völker in dem Riesenreich in Aufbruchstimmung, und Jelzin hoffte, sie im Kampf gegen die Partei-Bürokratie zu gewinnen.

Jelzin war ein Mann der Tat. Langes Überlegen und Zaudern war seine Sache nicht. Als die Alt-Kommunisten im August 1991 gegen den sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow putschten, war es Jelzin, der auf einen Panzer stieg und zum Widerstand gegen die Putschisten aufrief. Die Putschisten zogen sich zurück.

Jelzin wollte mit der kommunistischen Vergangenheit radikal Schluss machen, blieb aber in seinem eigenen Handeln der Diktatur in vielem verhaftet. Am 8. Dezember 1991 löste er zusammen mit den Präsidenten der Ukraine und Weißrusslands die Sowjetunion auf. Gorbatschow, der noch für eine reformierte Sowjetunion gekämpft hatte, wurde damit überrumpelt. Er musste zurücktreten.

Das neue Russland geformt

Gestern drückte Gorbatschow in einem Beileidstelegramm an Jelzins Frau Naina sein „ehrliches Beileid“ aus. „Unsere Schicksale kreuzten sich, und wir mussten in dem Moment handeln, als es im Land wichtige Veränderungen gab“, erklärte der erste und letzte Präsident der Sowjetunion.

Jelzin formte zusammen mit den „jungen Reformern“ um Jegor Gajdar, Anatoli Tschubais und Boris Nemzow das neue Russland. Es war eine stürmische Zeit. Das Staatseigentum wechselte unter oft ungeklärten und abenteuerlichen Umständen den Besitzer. Es entstand eine neue Schicht–die sogenannten Oligarchen, die bis heute Schlüsselstellungen in der Wirtschaft einnehmen.

Machtverzicht überraschte

Im Westen bleibt Jelzin als ein anfangs mutiger Kämpfer für ein neues Russland in Erinnerung. Doch mit jedem Jahr an der Macht wandelte sich Jelzin immer mehr zu einem unberechenbaren und führungsschwachen Politiker. Berichte über angeblich zügellosen Wodka-Konsum fügten dem Ansehen weiteren Schaden zu. Trauriger Höhepunkt war der Anblick des wankenden Jelzins, als er 1995 bei einem Gipfel der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten gestützt werden musste. Beim Abschied für die russischen Truppen in Deutschland fiel Jelzin 1994 als reichlich beschwingter Dirigent einer Militärkapelle aus dem Rahmen.

In der zweiten Hälfte der 90er Jahre war Jelzin durch seine Herzkrankheit nur noch bedingt arbeitsfähig. Immer häufiger kam es zu schwer nachvollziehbaren Hauruck-Entscheidungen. Ministerpräsidenten wurden reihenweise abgelöst. In der Neujahrsnacht 1999 übergab Boris Nikolajewitsch schließlich überraschend sein Amt dem damals noch völlig unbekannten Wladimir Putin. Der garantierte dem ersten russischen Präsidenten einen ungestörten Lebensabend.

In seinen letzten Lebensjahren zog sich Jelzin aus der Tagespolitik fast völlig zurück. Wenngleich ihm nicht alles an Putins Politik gefiel, ließ er allenfalls leise Kritik anklingen. In der Öffentlichkeit zeigte sich der Ruheständler zuletzt fast nur als Zuschauer bei Tennisturnieren. „Beeilt Euch nicht, mir Denkmäler zu setzen, denn ich werde mindestens 100 Jahre alt“, scherzte der Rentner vor einigen Jahren. Doch schon damals wusste der Zeit seines Lebens ehrgeizige Jelzin genau, dass er dieses Ziel nach fünf Infarkten, Magengeschwüren und Lungenentzündungen nicht erreichen würde. Herzschwäche riss ihn nun aus dem Leben.

Obwohl Jelzins Popularität in Russland zuletzt nicht groß war, berichtete das staatliche Fernsehen in versöhnlichem Ton. Der Fernsehmoderator Nikolai Swanidse bezeichnete Jelzin als einen „Chirurgen“, der es mit dem „schwerkranken Patienten Russland“ zu tun hatte. (mit dpa)

Sächsische Zeitung

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