11. January 2022

„60 Jahre, das ist wie 20 Jahre“ (der Freitag)

Interview In Russland überdauern Familienbande jedes System, sagen Julia Gurewitsch und Jura Lugowski. Auch die Generationen halten zusammen, denn sie eint mehr, als sie trennt

Ulrich Heyden Ausgabe 51/2021  23.12.22

Toleranz und Offenheit sind dazu geeignet, die eigene Eierschale aufzubrechen, um die Konflikte zwischen den Generationen auszuhalten. Die Psychologin Julia Gurewitsch und der Buchautor Jura Lugowski aus Schukowski, südöstlich von Moskau, nehmen es jungen Menschen nicht übel, wenn sie ihren Hedonismus pflegen und dem Mantra folgen: Trau niemandem über 30.

der Freitag: Wie äußern sich für Sie Konflikte zwischen den Generationen in Russland?

Julia Gurewitsch: Für uns äußern sie sich vorzugsweise als Ergebnis der technischen Entwicklung. Unser Sohn Pascha ist 25 und beherrscht alle modernen Informationstechnologien. Er kennt alle Computerprogramme und Spiele. Weil wir in dieser Hinsicht nicht sehr versiert sind, kann es passieren, dass er etwas sagt und wir nicht verstehen, wovon er spricht. Oft wollen wir es auch nicht wissen, weil es für uns nicht interessant ist. Das hat sicher etwas mit der Zähflüssigkeit des Denkens der älteren Generation zu tun.

Jura Lugowski: Und dann erkennt dich die Jugend manchmal einfach nicht an. Die Jungen glauben alle, dass sie mit ihrer Jugendkultur einzigartig sind und dass wir, die 20 bis 30 Jahre älter sind, das niemals verstehen werden.

Gurewitsch: Dieser Maximalismus kann sehr kränkend sein.

Lässt sich da eine Balance finden?

Gurewitsch: Man darf sich von diesem Maximalismus nicht über Gebühr beeindrucken lassen, aber auch nicht dem Irrglauben erliegen, wegen der bereits zurückgelegten großen Lebensstrecke klüger zu sein.

Gibt es bei Ihrem Sohn etwas, womit Sie absolut nicht einverstanden sind?

Gurewitsch: Er hatte keine Ziele, wusste nicht, welche Ausbildung er machen sollte. Ich habe ihm vorgeschlagen, Psychologie zu studieren. Er schloss die Ausbildung mit Bestnote ab, wollte aber nicht als Psychologe arbeiten, sondern in einem Bistro. Da mache ich mir bis heute große Sorgen. Schließlich sieht er gut aus und hätte als Psychologe bei den Frauen Erfolg gehabt. Ein bisschen kann ich ihn verstehen, ich arbeitete viele Jahre als Psychologin und wollte plötzlich nicht mehr. 2009 gründete ich mit Jura eine Tango-Schule.

Lugowski: Für unsere Eltern war dies ein Schock. Sie dachten, wir seien verrückt geworden. Ich war nie Tänzer, und nun gründete ich mit Julia eine solche Schule. Aber ich denke, es ist manchmal sehr nützlich, ein neues Leben anzufangen – selbst in unserem Alter.

Gurewitsch: Die Menschen, die in der Sowjetunion aufwuchsen, hatten zuverlässige Garantien und ein Arbeitsbuch, in das man ihre Tätigkeiten eintrug. Daraus ergaben sich bestimmte Rechte. Alles war klar geregelt: Hier ist deine Arbeit, das ist dein Vorgesetzter, das sind deine Arbeitszeiten. Wenn du dieses System verlässt – dachten unsere Eltern –, bist du ein Nichts.

Lugowski: Von Anfang an haben wir mit der Tanzschule mehr verdient als mit allem, was wir zuvor getan hatten. Unsere Eltern konnten das nicht glauben.

Dann müssten Sie doch mit dem Bistro-Job Ihres Sohnes eigentlich kein Problem haben?

Gurewitsch: Sicher, nur ertappe ich mich oft dabei, dass ich ihn fragen möchte: Willst du das ewig machen? Aber dann beiße ich mir auf die Zunge.

Lugowski: Pascha fragt, ob wir uns vor anderen Leuten für ihn schämen. Ob das für uns etwa eine Prestigefrage ist.

 

Zur Person

Privat

Julia Gurewitsch, 56, hat das Pädagogische Institut in Moskau absolviert und als Psychologin gearbeitet. Sie ist Autorin eines Kinderbuchs und schreibt Artikel über populäre Psychiatrie. 2009 gründete sie mit ihrem Mann in Schukowski eine Tango-Schule

 

Stimmt es, dass die Mütter in Russland ihre Söhne verwöhnen?

Lugowski: Es gibt ein Sprichwort: Eine gute Mutter füttert ihren Sohn bis zur Rente.

Warum eine so lange Fürsorge?

Gurewitsch: Es gibt bei uns viele einsame Frauen und viele infantile Männer. Für einen Sohn ist eine Mutter ohne Mann immer eine Bedrohung, weil sie ihm alles gibt, was sie hat, und hofft, es später zurückzubekommen. Wenn der Sohn älter ist, erzeugt sie bei ihm ein Schuldgefühl. Deswegen fällt es ihm oft schwer, eine Frau für sich zu finden, die seiner Mutter ähnlich ist: so schön, so klug, so fürsorglich …

Lugowski: Mütter sind daran interessiert, dass ihre Söhne ein gutes Einkommen haben, denn dann sind sie im Alter „in Schokolade eingepackt“.

Gibt es in Russland viele Kinder, die ihre Eltern ins Altersheim bringen?

Gurewitsch: In ein furchtbares Altersheim? Eine solche Bosheit gibt es bei uns – bis auf Ausnahmen – nicht. In der Regel geht die Initiative dafür, ins Heim zu gehen, von den Rentnern selbst aus, weil sie nicht von der Familie, sondern von professionellen Kräften versorgt werden wollen. Einige Pensionäre haben die Möglichkeit, in ein anständiges Heim zu ziehen, wenn sie einen guten Draht zu einer Behörde haben.

Wie ist es mit Ihren Eltern?

Gurewitsch: Mit meinem Vater verstehe ich mich. Mit meiner Mutter, sie ist jetzt 83 … wir sind sehr unterschiedliche Menschen. Aber ich finde immer einen Draht zu ihr.

Was heißt das? Rufen Sie jeden Tag bei ihr an?

Gurewitsch: Ja, ich rede mit ihr über das, was sie interessiert.

Was darf sie nicht erfahren?

Gurewitsch: Unsere Angelegenheiten. Unsere Beziehung. Unsere Pläne für die Zukunft, die nicht ihre Zustimmung brauchen.

Mir scheint, in Russland ist das Leben für ältere Menschen nicht einfach. Sie gehen nicht mehr zur Arbeit, haben weniger Kontakte, weniger Geld, brauchen mehr Beistand, der oft nur von der Familie kommen kann.

Lugowski: Das muss nicht so sein. Wenn du eine Wohnung vermietest oder ein kleines Geschäft betreibst, kannst du noch mit 80 kreativ sein und normal leben. Richtig ist, dass der Durchschnittsrentner in Russland häufig kein Geld hat.

Gurewitsch: Das heißt, du kannst dir in Moskau kein Billett fürs Theater oder Kino kaufen – das ist einfach zu teuer. Und das Leben hat sich geändert. Früher war ein 60-Jähriger in Russland nicht mehr jung, er saß im Hof, las die Zeitung oder spielte Domino. Heute gilt jemand mit 60 noch nicht als alt. Und wenn er will, kann er arbeiten und sich mit dem beschäftigen, wozu er Lust hat. Mein Vater ist 83 und arbeitet.

 

Zur Person

Ulrich Heyden

Jura Lugowski, 61, hat nach einem Journalistikstudium an der Lomonossow-Universität für diverse Zeitungen geschrieben und drei Romane vorgelegt. Er ist seit 25 Jahren mit Julia Gurewitsch verheiratet. Die beiden haben zusammen den Sohn Pascha

 

Was macht er?

Gurewitsch: Er berät eine Firma für Öffentlichkeitsarbeit. Er schreibt Reden und Briefe. Ohne diese Arbeit kann er nicht leben. Er arbeitet nicht, weil er Geld braucht. Es ist für ihn eine Frage der Lebenskultur. Wenn du die als Mensch hast, findest du immer eine Beschäftigung.

Lugowski: Der Mensch wird im Alter einsamer, aber ich sehe darin nichts Schlimmes. Niemand stört mehr. Es gibt nur ein Problem – die Gesundheit.

Gurewitsch: Einsamkeit ist eine subjektive Sache. Wenn ein Mensch einsam ist, fühlt er seine Freiheit und seine Persönlichkeit. Viel schlimmer ist es, wenn du mit Verwandten zusammenwohnst, die dir nichts bedeuten. Viele unserer Rentner haben eine besondere Gewohnheit: Sie verstehen es, trotz ihrer geringen Bezüge Geld zurückzulegen – in den Spartopf oder aufs Sparbuch. Dieses Geld ist keine Reserve für den Notfall, sondern dazu gedacht, Geschenke für die Enkel zu kaufen.

Kein Egoismus.

Gurewitsch: Nein, russischer Altruismus. Bei uns sind die Verwandtschaftsbeziehungen der älteren Generation sehr stark. Wenn du über 70 bist und deine Tochter oder dein Enkel dich nicht einmal in der Woche anruft, dann ist das sehr verletzend.

Da sind auch die Enkel in die Pflicht genommen?

Lugowski: Eher als alle anderen! Zwischen den Großeltern und den Enkeln gibt es keinen Generationskonflikt mehr. Die Alten und die ganz Jungen sind sich ähnlich. Es gibt bei uns ein Lied: „60 Jahre, das ist wie 20 Jahre, und 70, das ist wie 10.“ Der Vater von Julia ist mit unserem Sohn oft ins Ausland in den Urlaub gefahren. Sie haben sich sehr gut verstanden.

Wie beurteilen Sie das neue staatliche Programm „Aktives Alter“, das für ältere Menschen ein häufiges Beisammensein vorsieht?

Lugowski: Besser wäre es, die Renten zu verdoppeln. Wir sind jetzt im Vor-Rentenalter. Für Männer ab 60 und Frauen ab 55 gibt es eine Sozialkarte, mit der man Busse, Vorortzüge und die Metro umsonst benutzen kann. Das finde ich sehr gut. Von Schukowski nach Moskau zu fahren, das kostet normalerweise 500 Rubel (sechs Euro – U. H.). Zudem bekommt man mit der Sozialkarte in den Supermarktketten bis 13 Uhr einen Rabatt von sieben Prozent.

Fürchten Sie Armut im Alter?

Lugowski: Wir haben Berufe, denen man notfalls noch im Alter nachgehen kann.

veröffentlicht in: der Freitag

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