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Wie leben die ganz gewöhnlichen Menschen heute in Russland? Die großen deutschen Medien berichten hauptsächlich über Putin und den Ukraine-Krieg, aber kaum über den ganz normalen Alltag in Russland. Auch ein Kurzbesuch gibt keinen echten Einblick. Mit Menschen, die gerade in Russland angekommen sind, sprechen die Russen nicht gerne über ihre Probleme im Alltag, denn man möchte sein Land ja von der besten Seite zeigen. Auch hat man keine Lust auf gutgemeinte Ratschläge, die in der russischen Realität meist nicht passen. Der Autor schreibt seit 1992 Reportagen aus dem russischen Alltag und es macht ihm immer noch Spaß, denn dieser Alltag ist sowohl abwechslungsreich als auch spannend.
von Ulrich Heyden
Wir kamen von der Datscha im Süden von Moskau und machten einen kurzen Halt in Schukowski, einem Vorort der Hauptstadt. In einem überdachten Markt kauften Sweta — meine Frau — und ich uns ein paar Piroggen mit Kirschen, Fleisch und einen Cappuccino. Wir setzten uns an einen freien Tisch vor einem asiatischen Restaurant. Neben dem Tisch lagen in einem Regal für die Gäste zeitgenössische Romane und die sowjetischen Zeitschriften „Rund um die Erde“ sowie „Technik und Jugend“. Wir nahmen uns ein paar der Hefte und begannen zu lesen.
Plötzlich hörte ich, wie sich Sweta schnäuzte. Ich hob den Kopf und sah, dass sie Tränen in den Augen hatte. „Warum weinst du?“ fragte ich. Sie sagte, dass sie den Nachdruck aus dem Tagebuch der ersten sowjetischen Polarexpedition mit Flugzeugen im Jahr 1937 lese. Dort wurde eine Funkstation und Porträts von Stalin auf dem Eis aufgestellt. Jemand bekam ein Glückwunschtelegramm von seiner Familie. Das berührte das Herz von Sweta.
Ich las unterdessen im Magazin „Technik und Jugend“ das Protokoll einer Konferenz im Jahr 1989. Zwei Wissenschaftler, Aleksandr Busgalin und Andrej Kolganow — zwei Sozialisten, die mir seit langem bekannt sind — diskutierten mit Arbeitern über die Ausbeutung.
Um die schweren Mängel bei der Versorgung der Bevölkerung zu beheben, komme man nicht darum herum, Elemente der Ausbeutung zu reaktivieren, meinte damals Busgalin. Ich war begeistert, dass ich auf dieses interessante Dokument gestoßen war — nicht in einer Bibliothek, sondern dort, wo die Leute einkaufen gehen.
Nach der Verschnaufpause fuhren wir weiter nach Moskau, wo wir zur Miete wohnen.
Kaum hatten wir unser Auto vor unserem Mehrfamilienhaus geparkt, klingelte mein Handy. Am anderen Ende war meine Vermieterin. Sie fragte, ob ich zuhause sei. Wahrscheinlich gebe es in unserer Wohnung eine Überschwemmung. Sie habe davon im WhatsApp-Chat unseres Hauses gelesen.
Wir stürmten in die Wohnung und sahen: Im Bad herrschte ein Klima wie in einem Dampfbad. Von der Decke fielen Wassertropfen. Wir dachten, bei den Nachbarn über uns habe es mal wieder einen Rohrbruch gegeben.
Wir riefen die Klempner der Hausverwaltung. Im Keller stellten sie das Heißwasser für das ganze vierstöckige Haus wieder an. Das Heißwasser war — wie wir später erfuhren — am Vormittag, als eine Wand im Treppenhaus feucht geworden war, abgestellt worden, weil man eine Leckage vermutete. Kaum war das Heißwasser für das Haus wieder angestellt, zischte fröhlich Heißwasser aus einem Rohr in unserem Bad. Die Klempner stellten das Heißwasser in unserem Haus wieder ab und schweißten das Loch in unserem Rohr zu. Dann stellten sie das Heißwasser im Haus wieder an.
Das Problem scheint nun gelöst. Aber was war eigentlich der Grund für das Loch im Heißwasserrohr?
Wie üblich wird das Heißwasser in Moskau im Sommer immer für zwei Wochen abgestellt, um Wartungsarbeiten durchzuführen. Als das Heißwasser dann — während wir auf der Datscha waren — von der Hausverwaltung wieder angestellt wurde, war der Druck in den Rohren offenbar so groß, dass unser Heißwasserrohr im Bad undicht wurde.
2017 hatten wir das gleiche Problem. Auch damals entstand nach der Wiederanstellung des Heißwassers in unserem Bad ein Loch im Heißwasserrohr. Auch damals wurde es zugeschweißt.
Das ist schon ein Ding: Die zugeschweißten Löcher von 2017 und 2025 liegen nur 20 Zentimeter auseinander. Im Sommer 2026 könnte sich das Drama wiederholen. Unser Haus soll aber erst 2028 — im Rahmen einer Abrissaktion von fünfgeschossigen Häusern, sogenannten Chruschtschowkas — abgerissen werden.
Die Wohnungsverwaltung schickte ein paar Tage nach dem Leck — wir mussten telefonisch drängeln — eine Sachverständige, die den Schaden und seine Beseitigung protokollierte. Als ich die junge Frau fragte, ob es nicht die beste Lösung sei, das Heißwasserrohr komplett zu erneuern, schüttelte sie den Kopf. Nein, das sei nicht möglich. Sie könne uns ja verstehen, aber für „größere Reparaturen“ habe die staatliche Hausverwaltung kein Geld.
Der Wohnungseigentümer unter uns hatte von der Leckage in unserem Bad übrigens den größten Schaden. Sein Bad und sein Korridor standen noch Tage nach dem Leck unter Wasser.
Der Mann erzählte mir, dass er in dem Haus seit 60 Jahren lebt. In dieser Zeit seien die Rohre im Haus kein einziges Mal erneuert worden. Sowas wie Wut spürte ich bei ihm nicht.
So ein Schlamassel bei den Hausverwaltungen alter Häuser ist landauf, landab bekannt, und man hat sich daran gewöhnt.
Es ist schon interessant: Im Jahr 1989 — während der Perestroika — hofften russische Sozialisten, dass eine teilweise Einführung marktwirtschaftlicher Elemente und die Zulassung von „Ausbeutung“ zu einer Verbesserung bei der Versorgung der Bevölkerung führen würde.
In unserem viergeschossigen Haus, das während der Chruschtschow-Zeit gebaut wurde, ist von den erhofften Verbesserungen in der Versorgung jedoch nichts zu spüren. Seit den 1990er Jahren wurden die Anfang der 1960er Jahre gebauten viergeschossigen Häuser — genannt auch Chruschtschowkas — vernachlässigt. Irgendwann galten sie dann alle als „nicht mehr zeitgemäß“ und für eine Generalüberholung „zu teuer“. Investoren lauerten auf den teuren Boden und boten an, gemeinsam mit dem Staat zwölfgeschossige und noch höhere Wohntürme mit Tiefgaragen zu errichten.
Seit einigen Jahren gleicht Moskau einer einzigen Baustelle. Von einer Krise ist nichts zu sehen. Überall schießen riesige Wohn- und Bürotürme aus dem Boden. Der Bausektor boomt. Geld scheint genügend vorhanden. Arbeitsmigranten aus Zentralasien tragen — neben dem Kapital — einen wichtigen Teil zum Entstehen immer neuer Hochhäuser bei.
Die Chruschtschowkas sind der in Russland am weitesten verbreitete Haustyp. In Moskau werden diese Häuser jetzt nach und nach abgerissen. Die Bewohner werden in Neubauten mit zwölf und mehr Etagen umgesiedelt.
Viele freuen sich über die Umsiedlung in modernen Wohnraum. Es bleibt jedoch ein bitterer Tropfen: Die üppigen Grünflächen zwischen den viergeschossigen Wohnhäusern, schrumpfen aufgrund der rasant gestiegenen Bodenpreise immer mehr. Zudem ist die Qualität der neuen hochgeschossigen Häuser nicht mit der der alten — zu Sowjetzeiten gebauten — Häuser mit ihren 60 Zentimeter dicken Außenwänden vergleichbar. Die neuen Häuser seien hellhörig, berichten Umgesiedelte im WhatsApp-Chat unseres Wohnquartals.
Über diesen Chat wurden auch Versammlungen der Bewohner unseres Quartals organisiert, auf denen eine zügigere und gerechtere Umsiedlung gefordert wurde. Denn zunächst sollten in einen Wohnungsneubau in unserem Quartal Chruschtschowka-Bewohner aus einer entfernteren Ecke unseres Quartals einziehen. Die Menschen aber, die direkt neben der Baustelle für einen Wohnungsneubau wohnten und jahrelang Baulärm ertragen mussten, sollten sich gedulden. Aufgrund der Versammlungen unter freiem Himmel und Unterschriftensammlungen machte die staatliche Wohnungsverwaltung dann Zugeständnisse.
Das Flair des sowjetischen Alltags und seine Bauten verschwindet aus Moskau. Dafür gibt es jetzt Hochhäuser im postmodernen Design, Cappuccino und Croissants an jeder Ecke. Und das Grün? Zum Glück gibt es in der Stadt viele große Parks. Wer kann, fährt am Wochenende auf eine Datscha oder ins grüne Umland von Moskau, zum Baden und Pilze sammeln.
Gibt es nichts Wichtigeres, als über ein geborstenes Heißwasserrohr aus Moskau zu berichten? Wird sich so mancher Leser fragen. Ich finde, Wohnen ist eines der wichtigsten Themen in unserem Leben und warum soll man nicht auch darüber schreiben, in welchen Häusern die Russen wohnen und wie sie Probleme meistern?
veröffentlicht in: Manova.news