22. June 2022

60 Tonnen Hilfsgüter in Donezk eingetroffen, finanziert auch durch deutsche Spenden (Nachdenkseiten)

Liane Kilinc, Foto Ulrich Heyden
Foto: Liane Kilinc, Foto Ulrich Heyden

22. Juni 2022 um 10:00 Ein Artikel von Ulrich Heyden

Liane Kilinc aus Wandlitz organisiert seit acht Jahren humanitäre Hilfe für die Menschen in der international nicht anerkannten „Volksrepublik“ Donezk. In diesen Tagen ist die Aktivistin in Moskau, wo sie den 40. Hilfstransport – drei Lastwagen mit jeweils 20 Tonnen Hilfsgütern – von Moskau nach Donezk mit organisiert hat. Der Transport traf am Sonntag in Donezk ein. Er wurde mitfinanziert von dem deutschen Verein „Friedensbrücke – Kriegsopferhilfe“, den Kilinc vor acht Jahren zusammen mit Gleichgesinnten im brandenburgischen Wandlitz gründete. Ulrich Heyden traf sich in Moskau mit Liane Kilinc.

Was für ein Gefühl haben Sie nach den ersten vier Tagen in Moskau? Wie wurden Sie als Deutsche hier aufgenommen? Wurden Sie manchmal kritisch angeguckt? Haben Sie das Gefühl, dass es in Russland schon so etwas wie Deutschen-Feindlichkeit gibt?

Rein vom Gefühl her, nein. Ich bin bei Freunden (lächelt). Und ich habe mich lange nicht so frei gefühlt in meiner humanitären und politischen Arbeit, ohne mich umgucken zu müssen, was ist erlaubt und was nicht.

Was haben Sie bisher in Moskau erlebt?

Am ersten Tage habe ich mir drei Lager angeguckt, wo die Hilfsgüter für den Donbass gelagert wurden. Wir haben das Organisatorische geklärt, weil die Lastwagen eigentlich am 11. Juni losfahren sollten. Aber wegen der Kriegssituation bekam der Transport im Donbass keinen grünen Korridor und wurde auf den 16. Juni verlegt. Ob ich die letzte Etappe durch das Kriegsgebiet mitfahre, mache ich von der aktuellen Situation abhängig. Der Transport wird von unserem Verein „Friedensbrücke“ in Zusammenarbeit mit der Hilfsorganisation „Moskau-Donbass“ abgewickelt.

Wieviel Spenden habt Ihr im Laufe der Jahre gesammelt?

Der Transport der Hilfsgüter ist nur ein kleiner Teil der Arbeit. In den acht Jahren haben wir über 750 Projekte im Donbass gemacht. Im Laufe der Jahre kam eine sechsstellige Summe an Spendengeldern zusammen.

Wann habt Ihr den ersten LKW in den Donbass geschickt?

Das war im Februar 2015. Damals wurde die Fahrt von Radio Berlin Brandenburg und von der Märkischen Oderzeitung begleitet. Wir schickten damals Wintersachen in den Donbass.

Wen unterstützen Sie im Donbass?

Schulen, Kindergärten, Waisenhäuser, Altenheime, Krankenhäuser. Wir leisten Hilfe für Dorfbewohner in den Frontgebieten und für Veteranen. Wir lieferten auch Hilfe für eine Berufsschule in der Stadt Gorlowka („Volksrepublik“ Donezk). Das ist eine Berufsschule mit Internat. 21 Zimmer des Internats haben wir komplett renoviert und saniert. Wir haben Warm-Wasser-Boiler, Badewannen, elektrische Leitungen finanziert und wir haben eine Tischlerei mit Material versorgt. In Gorlowka haben wir eine Nähwerkstatt aufgebaut und das durch Beschuss zerstörte Dach des Kulturhauses Komsolmolez neu gedeckt.

Uns ist Hilfe zur Selbsthilfe wichtig. Das ist im Sinne der Menschenwürde. Wir möchten, dass Kleidung nicht auf Dauer in den Donbass gebracht wird, sondern dass die Kleidung dort selbst hergestellt wird. Wir bringen auch jedes Jahr Saatgut. Außerdem haben wir Küken gekauft, damit die Leute in ihren Gärten Hühner züchten können. Die Menschen haben ganz gezielt danach gefragt und gesagt, „können wir wieder auf euch zählen?“

Wie kontrolliert Ihr, dass alle Spenden korrekt eingesetzt werden?

Die Kontrolle findet vor Ort und zuhause in Wandlitz statt. Wir sind ein eingetragener gemeinnütziger Verein. Du musst also bei jedem Cent, der an Spenden reinkommt, mit einem Beleg nachweisen, dass die Spenden zweckgebunden eingesetzt wurden. Weil wir ja – wie man sagt – der „falschen Seite“ helfen, schauen die Behörden ganz besonders drauf, dass jeder Cent für die richtige Sache ausgegeben wurde. Außerdem waren wir bis zur Corona-Krise jedes Jahr zweimal im Donbass und sind alle Projekte abgelaufen und abgefahren. Außerdem bekomme ich immer die Belege sowie eine Foto- und Videodokumentation. Die Verwaltung vor Ort stempelt die Belege ab. Für jeden Ort oder Bereich haben wir einen Ansprechpartner. Wir arbeiten mit diesen Ansprechpartnern schon seit vielen Jahren zusammen.

Und wie viele Personen wickeln diese bürokratische Arbeit in Deutschland ab?

Das macht im Wesentlichen der fünfköpfige Vereinsvorstand. Aber Vereinsmitglieder können sich einklinken.

Habt Ihr in Deutschland Probleme, weil die Leute nicht verstehen, warum Ihr die „Pro-Russen“ im Donbass unterstützt?

Vor dem russischen Einmarsch hat das keine Rolle gespielt. Da gab es einen Krieg auf europäischem Gebiet und da haben die Menschen uns unterstützt, denn im Donbass gab es Menschen, die brauchten Hilfe. Was mich überrascht hat, ist, dass die Menschen, die uns bisher unterstützten, jetzt nicht abgesprungen sind. Und noch überraschender ist, dass wir neue Unterstützer haben. Es gibt auch Unterstützung von den alternativen Medien und Unterstützung aus Österreich und der Schweiz.

Gestern waren Sie in einem Flüchtlingsheim im Gebiet Kaluga bei Moskau. Was waren Ihre Eindrücke?

Das war kein Flüchtlingsheim. Es war ein Flüchtlingscamp. Wir sagen eigentlich lieber Friedenscamp, weil „Flüchtlingslager“ hat immer so einen Geschmack. In diesem Friedenscamp leben in Häusern 350 Menschen aus Regionen im Donbass, die wir unterstützt haben, u.a. aus der Stadt Gorlowka. Diese Menschen wurden wegen der Beschießung durch die ukrainische Armee nach Russland evakuiert. Eine Gruppe der Flüchtlinge – es waren Jugendliche von der Musikschule Nr. 1 in Gorlowka – haben wir nach Moskau eingeladen, damit sie mal wieder auftreten können. In der Musikschule in Gorlowka haben wir neue Fenster einbauen und einen neuen Fußbodenbelag legen lassen. Außerdem haben wir neue Musikinstrumente gekauft.

In dem Flüchtlingscamp leben wahrscheinlich Menschen mit verschiedenen politischen Einstellungen. Wie gehen Sie damit um?

Die 350 Flüchtlinge, denen wir geholfen haben, sind natürlich ganz klar auf der russischen Seite. Aber in diesem Camp sind auch Flüchtlinge aus anderen Regionen untergebracht, z.B. aus Mariupol. Russland hat Jedem, der sich aus dem Kriegsgebiet in Sicherheit bringen wollte, die Möglichkeit gegeben, das Gebiet zu verlassen. In dem Camp bei Kaluga gab es sehr viel Lob für das, was für die Kinder dort organisiert wird. Sie fühlen sich dort sehr gut aufgehoben. Die Kinder gehen alle zur Schule. Natürlich gibt es innerhalb dieses Camps Konflikte, weil die Menschen aus verschiedenen Regionen kommen. Wir kennen das auch aus Deutschland. Ich muss dazu sagen, ich habe vier Jahre in einem Übergangswohnheim gearbeitet und ich kenne diese Konflikte. Sie sind immer politisch, niemals ethnisch.

Also nicht Russen gegen Ukrainer?

Nein. Wir kennen das aus Deutschland, dass Familien gespalten werden, durch bestimmte Bedingungen, ob das nun die Corona-Politik war oder …

Viele Deutsche, mit denen ich im Kontakt bin, sind bereit zu spenden, aber das reicht Vielen nicht. Viele wollen am liebsten in den Donbass mitfahren. Die brauchen etwas Konkretes. Was meinen Sie dazu?

Wenn Jemand sagt, er möchte selber dorthin, dann muss er sich auch der Gefahr bewusst sein. Man kann nicht in ein Kriegsgebiet fahren wie ein Tourist. Das ist völlig unmöglich. Wenn man – wie wir – für eine Organisation fährt, muss man sich erstmal akkreditieren und man braucht bestimmte Kontakte.

Nicht nur einmal sind wir beschossen worden und wir haben auch Zeit in Kellern verbracht. Wir wurden bei größeren Projekten immer durch die OSZE begleitet und einmal hat die OSZE uns einfach sitzen lassen, das war in Dokuschajewsk. In den Jahren 2015/16 waren wir jedes Mal froh, wenn wir wieder gesund zuhause waren. Gesund waren wir übrigens nicht immer. Über die Jahre gab es verschiedene Probleme. Wir hatten Magenprobleme. Es gab große Probleme mit dem Trinkwasser, weil es einen Anschlag auf die Trinkwasseranlage von Donezk gab. 2018/19 hat sich die Lage dann entspannt.

Wenn die Leute wirklich helfen wollen, dann ist die Hilfe in Deutschland wichtig. Wir brauchen Jemanden, der die Fotos bearbeitet, die Homepage betreut, die Video schneidet, jemanden, der publiziert, der bei verschiedenen Veranstaltungen vor Ort ist. Wenn jetzt Jemand aus Leipzig kommt, dann sage ich, wunderbar, dann können wir auch z.B. in Leipzig eine Ausstellung machen. Die Arbeit in Deutschland ist viel wichtiger, damit das Thema Donbass weiter in der Öffentlichkeit bleibt.

Gab es in Deutschland Behinderungen Eurer Arbeit?

Es gibt schon über einen längeren Zeitraum Anrufe mit Drohungen, bis hin zu der Aufforderung offizieller Stellen, wir sollten unsere Arbeit einstellen. Es gab böse Zeitungsartikel, wie zum Beispiel einen langen Artikel in „Die Welt“, wo es hieß, man solle uns verbieten, weil wir mit Separatisten zusammenarbeiten.

Das deutsche Außenministerium und auch der ukrainische Botschafter sagten uns, wir sollten unsere Hilfe über Kiew und nicht über Moskau schicken. Und dann gibt es noch Strafverfahren wegen der „Billigung eines Angriffskrieges“. Man darf die sowjetische Fahne, die rote Fahne der Befreiung, die russische Fahne und das Symbol „Z“ in Deutschland nicht öffentlich zeigen. Das Zeigen dieser Symbole kann mit bis zu drei Jahren Gefängnis geahndet werden. Es gibt Hausdurchsuchungen.

Es kam vor, dass ich auf Facebook Beiträge geschrieben habe, zum Beispiel zu Butscha, in denen ich mich kritisch mit Stellungnahmen der Bundesregierung auseinandergesetzt habe. Einmal haben alle, die meinen Beitrag auf Facebook geteilt haben, eine Anzeige wegen Billigung einer Straftat bekommen.

In der Ukraine und im Donbass gibt es Menschen mit verschiedenen Ansichten, die einen wollen nach Europa, die anderen meinen, dass Russland ihre Heimat ist. Wem helft ihr?

Solange es sich nicht um Faschisten und Verbrecher handelt, verbietet unsere Satzung, zu unterscheiden. Wenn mich jemand aus Kiew anruft und sagt, er hat nichts zu essen, wird er die gleiche Hilfe bekommen wie Jemand in Donezk. Auch auf der anderen Seite der Front geht es den Menschen nicht gut und auch denen haben wir geholfen. Das haben wir vom Donbass aus gemacht. Wir haben zum Beispiel auch Kinderheime in der Nähe von Kiew unterstützt. Familien haben Verwandte in alle Richtungen, nach dort und nach dort. Und über diese Kontakte haben wir die Hilfe organisiert.

veröffentlicht in: Nachdenkseiten

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