Parade zum 75. Jahrestag. Bild: Kreml/CC BY-4.0
Eine Ursache für den Aufstieg von Hitler und den Beginn des Zweiten Weltkrieges sieht der russische Präsident in den Reparationen, welche Deutschland nach dem Versailler von 1918 zahlen musste. Das "Ausrauben" Deutschlands durch "riesige Reparationen" sei eine "nationale Erniedrigung" und ein "Nährboden für radikale revanchistische Stimmungen in Deutschland" gewesen, so Putin.
Diese Argumentation ist nicht neu. Es fällt auf, dass andere Ursachen für den Aufstieg des Faschismus wie Antisemitismus, Militarismus, antislawischer Rassismus und Untertanengeist von Putin nicht genannt werden. Man hat den Eindruck, dass der russische Präsident diese Themen scheut, offenbar aus Rücksicht auf die deutsche Volksseele und konservative Kreise.
Ins Auge fällt auch, was der russische Präsident über die "Finanz- und Industriekreise" von Großbritannien und den USA schreibt. Diese hätten direkt oder indirekt "ziemlich aktiv Kapital in den deutschen Fabriken angelegt, die Militärgüter produzierten". Es wird nahegelegt, dass diese Kreise Hitler kriegsfähig machten, eine These, wie sie auch von deutschen Rechtspopulisten und Konservativen häufig zu hören ist.
Ist es nur taktische Zurückhaltung gegenüber Russlands Wunschpartner Deutschland, oder warum schreibt Putin kein Wort über das deutsche Großkapital, welches Hitler finanzierte. Warum erwähnt der russische Präsident nicht, dass führende deutsche Industrielle vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal standen und verurteilt wurden? Weil Russland sich mehr deutsche Investitionen wünscht?
Offenbar hofft der russische Präsident, dass die Deutschen endlich erkennen, dass man sich aus der Verklammerung mit den USA und Großbritannien befreien und sich mit Russland zusammentun muss. Diese Hoffnung ist auch in der russischen Bevölkerung sehr populär. Man kann darüber fast täglich in russischen Medien lesen.
Mitschuldig am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges sind nach Meinung des russischen Präsidenten die Westmächte, welche Hitler nachgaben. "Im Unterschied zu vielen damaligen Leitern Europas befleckte Stalin sich nicht durch ein persönliches Treffen mit Hitler", der damals "in westlichen Kreisen als ganz respektabler Politiker galt".
Der russische Präsident weist darauf hin, dass Polen sich an der Aufteilung der Tschechoslowakei 1938 beteiligte. Der polnische Botschafter in Deutschland Józef Lipski habe dem polnischen Außenminister Józef Beck am 20. September 1938 geschrieben, dass es Absprachen mit Berlin gäbe. "Das Reich" habe versprochen, die polnischen Interessen in der Tschechoslowakei zu berücksichtigen. Die Folge war, dass am 2. Oktober 1938 polnische Truppen das Olsa-Gebiet im Norden der Tschechoslowakei besetzten.
Putin zitiert aus dem Protokoll einer Unterredung zwischen dem deutschen Botschafter in Warschau, Hans-Adolf von Moltke, und dem polnischen Außenminister Józef Beck vom 1. Oktober 1938, nachdem Beck seine "große Dankbarkeit für die loyale Behandlung der polnischen Interessen auf der Konferenz von München" und für die "ehrlichen Beziehungen" während des "Tschechien-Konflikts" ausdrückte. "Die Regierung und die Bevölkerung (Polens) würdigt die Positionen des Führers und Reichskanzlers", so das Protokoll.
Putin hebt hervor, dass gegen die Eingliederung des Sudetenlandes in das Deutsche Reich im Oktober 1938 nicht die Westmächte, sondern nur die Sowjetunion auftrat. Großbritannien und Frankreich hätten die Tschechoslowakei verraten und damit die "Drang der Nazis nach Osten" erleichtert, in der Hoffnung, dass Deutschland und die Sowjetunion "zusammenstoßen und ausbluten".
Polen habe sich damals - selbst unter dem Druck seiner Verbündeten im Westen - geweigert, sich "zusammen mit der Roten Armee der Wehrmacht entgegenzustellen".
Putin weist darauf hin, dass vor der Sowjetunion andere Staaten einen Nichtangriffspakt mit Hitler-Deutschland geschlossen haben. Nichtangriffspakte schloss Hitler-Deutschland mit Polen, Dänemark, Lettland, Estland und Frankreich. Die Sowjetunion habe den Pakt angesichts eines drohenden Zwei-Fronten-Krieges - im Westen Hitler-Deutschland, im Osten das militaristische Japan - abgeschlossen. Im Mai 1939 war es zu Gefechten zwischen sowjetischen und japanischen Truppen am Grenzfluss Chalchin Gol gekommen. Der Fluss bildete die Grenze zwischen der Sowjetunion und dem von Japan errichteten "Kaiserreich" Mandschurei.
Der Text des russischen Präsidenten richtet sich an das Ausland. Dies ist wohl ein Grund, warum es in dem Text sehr starke Worte gegen Stalin und "die Bolschewisten" gibt, die von Putin früher nicht zu hören waren. "Stalin und seine Umgebung verdienen viel gerechte Beschuldigungen. Wir erinnern an sein verbrecherisches Regime gegen das eigene Volk und die Schrecken der Massenrepression", schreibt Putin.
Was man Stalin aber nicht vorwerfen könne, sei, dass er die Bedrohung von außen nicht erkannt habe. Mit dem Nichtangriffspakt habe Stalin versucht, "kostbare Zeit" zu gewinnen, "für die Sicherung der Verteidigung des Landes." Putin erinnert daran, dass der Oberste Sowjet der Sowjetunion am 24. Dezember 1989 die zwischen Deutschland und der Sowjetunion vereinbarten Geheimprotokolle als "Akt persönlicher Macht" verurteilt hat. Das Geheimprotokoll habe "nicht den Willen des sowjetischen Volkes widergespiegelt".
Mit seinen Äußerungen zu Stalin hängt Putin sich sehr weit aus dem Fenster. Stalin ist in Russland wegen des Siegs im Zweiten Weltkrieg sehr populär. 70 Prozent der Russen beurteilen nach einer Umfrage des Lewada-Zentrums die Rolle von Stalin in der russischen Geschichte positiv. Viele Russen sind sogar der Meinung, dass Repressionen zur Erreichung bestimmter Ziele, wie der Industrialisierung des Landes, unumgänglich waren.
Der russische Präsident kritisiert, dass der Westen nicht nur seinen Verrat an der Tschechoslowakei bei der Konferenz von München 1938 verschweigt, sondern auch die Äußerungen des polnischen Botschafters Józef Lipski in Berlin. Dieser habe am 20. September 1938 in einer Unterredung mit Hitler erklärt, "für die Lösung der Judenfrage werden wir (die Polen) ihm (dem Führer) ein schönes Denkmal in Warschau aufstellen".
Die Führung Polens habe nach dem Angriff von Hitler-Deutschland am 1. September 1939 das eigene Volk im Stich gelassen und sei am 17. September nach Rumänen geflüchtet. Die westlichen Verbündeten seien Polen nach dem Angriff von Hitler-Deutschland nicht zur Hilfe gekommen. Das sei ein "klarer Verrat der Verpflichtungen von Frankreich und England gegenüber Polen" gewesen.
Putin hob in seinem Text hervor, dass die Sowjetunion im September 1939 mit den deutschen Okkupationstruppen nicht gleichzog.
Erst am 17. September, als klar war, dass England und Frankreich Polen nicht zu Hilfe kommen und die Wehrmacht ganz Polen einnehmen und damit bis kurz vor Minsk vorrücken kann, seien Truppen der Roten Armee auf polnisches Gebiet vorgerückt. Dieses Gebiet gehöre heute zu Weißrussland, Litauen und der Ukraine.
Die sowjetisch-polnische Grenze lag bis zum 17. September 1941 nur 40 Kilometer vor Minsk. Wäre die Rote Armee nicht nach Polen einmarschiert, hätte - so der russische Präsident - "der unvermeidbare Krieg mit den Nazis von einer äußerst ungünstigen strategischen Position aus begonnen".
30. Januar 1943 - Deutsche Soldaten geben auf. Museum der Schlacht von Stalingrad in Wolgograd. Bild: Ulrich Heyden
Der russische Präsident weist darauf hin, dass die Rote Armee sich nicht das Gebiet von Polen nahm, welches laut dem deutsch-sowjetischen Geheimprotokoll zur sowjetischen Sphäre gehören sollte. Nach dem Geheimabkommen hätte die Rote Armee "bis nach Warschau vorrücken können", aber die Rote Armee besetzte nur ein Gebiet entlang der Curzon-Linie, die schon 1919 von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges (Großbritannien, Frankreich, USA, Italien) unter Bezugnahme auf die Muttersprache der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung als Ostgrenze Polens vorgeschlagen worden war.
An der Übernahme der Territorien von Lettland, Litauen und Estland durch die Sowjetunion hat Putin nichts auszusetzen. Er bezeichnet den Prozess als "Inkorporation". Die Übernahme dieser Gebiete durch die Sowjetunion sei "auf Vertragsbasis" und "unter Zustimmung der gewählten Macht" dieser Staaten geschehen.
Der russische Präsident schreibt, die westlichen Staaten seien damals mit dem Vorgehen der Sowjetunion "faktisch einverstanden" gewesen. Als Beleg zitiert er den damaligen ersten Lord der britischen Admiralität, Winston Churchill. Der habe am 1. Oktober 1939 in einer Radioansprache gesagt, "Russland führt eine kalte Politik der eigenen Interessen durch (…) Für den Schutz Russlands vor der nazistischen Bedrohung war es unverzichtbar, dass die russische Armee auf dieser Linie stand." Weiter zitiert Putin den britischen Außenminister, Edward Halifax. Der soll gesagt haben, "es ist nötig sich daran zu erinnern, dass das Vorgehen der sowjetischen Regierung bedeutet, dass die verschobene Grenze auf der Linie liegt, die zu Zeiten der Konferenz von Versailles von Lord Curzon vorgeschlagen wurde. Ich führe nur historische Fakten an und gehe davon aus, dass sie unbestritten sind."
Churchill - so Putin - habe sich damals "trotz seiner bekannten Abneigung gegen die Sowjetunion" als "weitsichtiger Politiker hervorgetan". Schon im Mai 1939 habe Churchill erklärt: "Wir befinden uns in einer tödlichen Gefahr, wenn wir nicht eine große Union gegen die Aggression bilden können. Es wäre die größte Dummheit, wenn wir die natürliche Zusammenarbeit mit der Sowjetunion ablehnen."
Der russische Präsident findet es unbegreiflich, wenn es heute westliche Medien gibt, in denen über die Anti-Hitler-Koalition geschrieben, aber die Sowjetunion als Teil dieser Koalition verschwiegen wird. Die Sowjetunion habe den "entscheidenden" Anteil am Sieg über Hitler-Deutschland. Die Kampftage der deutschen Soldaten an der Ostfront überstiegen die Kampftage an allen anderen Fronten "um das Zehnfache". Die Sowjetunion habe in diesem Krieg jeden siebten Bürger, Großbritannien einen von 127 und die USA einen von 320 Bürgern verloren. Auf die Argumentation von Russland-Kritikern, die hohen Verlustzahlen der Roten Armee habe eine "unfähige" sowjetischen Staatsführung selbst verschuldet, lässt sich Putin nicht ein.
Zum Schluss seines Textes äußert der russische Präsident die Hoffnung, dass die UNO in Zukunft eine wichtige Rolle spielt. Würde man das Vetorecht im UN-Sicherheitsrat abschaffen, werde die UNO dem Völkerbund - "einer Versammlung leerer Worte" - ähnlich, "ohne Hebel zur Einflussnahme auf die weltweiten Entwicklungen". Womit das endete, sei "ja jedem bekannt".
Dem gegründeten 1920 Völkerbund gelang es nicht, ein kollektives Sicherheitssystem zu schaffen. Er wurde 1946 aufgelöst. An seine Stelle traten die 1945 gegründeten Vereinten Nationen.
Putin schreibt: "Der Krieg kam nicht plötzlich, man erwartete ihn und hat sich auf ihn vorbereitet." Warum es der Wehrmacht gelang, in vier Monaten bis kurz vor Moskau vorzurücken, auf diese Frage geht der russische Präsident nicht ein. Offenbar wollte er den Text durch das Eingestehen von Fehlern nicht aufweichen. Vermutlich hat Putin sich gesagt, sollen sich die westlichen Politiker doch erstmal an den Zitaten von Winston Churchill die Zähne ausbeißen. Danach können wir auch über unsere Fehler reden.
Von Ulrich Heyden erschien im März 2020 "Wer hat uns 1945 befreit? Interviews mit Kriegsveteranen und Analysen zu Geschichtsfälschung und neuer Kriegsgefahr", Verlag Tredition/Hamburg. 229 Seiten.
(Ulrich Heyden)
veröffentlich in Telepolis