22. June 2024

83. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion – Russland gedenkt (Overton-Magazin)

“Hungernde Menschen”. Im belagerten Leninggrad zieht eine alte Frau einen hungernden Jugendlichen auf einem Schlitten. Bild: RIA Novosti archive, image #244 / Ozersky / CC-BY-SA 3.0
Foto: “Hungernde Menschen”. Im belagerten Leninggrad zieht eine alte Frau einen hungernden Jugendlichen auf einem Schlitten. Bild: RIA Novosti archive, image #244 / Ozersky / CC-BY-SA 3.0

22. Juni 2024 

Am 22. Juni 1941 griff Hitler-Deutschland auf breiter Front die Sowjetunion an. In Moskau waren für die Nacht auf den 22. Juni 2024 verschiedene Gedenkaktionen mit Kerzen und einem Konzert geplant.

Und so begann der Krieg: Am 22. Juni 1941 um 3:05 wurden von deutschen Ju-88 28 Minen auf den Marine-Stützpunkt Kronstadt bei Leningrad abgeworfen. Zwei Minuten später meldete der Kommandeur der Schwarzmeerflotte, dass von Meeresseite eine große Zahl unbekannter Flugzeuge im Anflug sei.

Um 4:15 begannen die deutschen Truppen mit massiven Artillerieangriffen auf die Festung von Brest in Weißrussland. Vor der Grenze Weißrusslands standen unter Leitung von Feldmarschall Fedor von Bock, Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte, 650.000 deutsche Soldaten, 800 Panzer, 12.500 Geschütze und 1.700 Flugzeuge.

Die sowjetische Armee hatte nicht weniger Kräfte in Bereitschaft. Wegen unklarer Berichte wusste die sowjetische Armeeführung aber nicht, auf welche Stellen man die Gegenschläge konzentrieren sollte, so dass es zu Verzögerungen kam.

So gelang es den deutschen Panzern unter Generaloberst Heinz Guderian in den befestigten Bereich um Minsk einzubrechen. In den ersten 18 Kriegstagen fielen 341.073 sowjetische Soldaten.

Deutscher Angriff auf ein Dorf in Weißrussland. Bild: welcome belorus

Flucht aus einem Dorf bei Minsk

Im Dorf Wolkowitsch nicht weit von Minsk spielte 22. Juni 1941 die achtjährige Nadjeschda Dmitrijewa sorglos im Garten einer Datscha. Es war ein schöner Sommertag. 2021 erzählte Nadjeschda mir, „meine Mutter lag auf einer Liege im Garten und las in einem Lehrbuch. Sie war Primaballerina am Minsker Opern- und Balletttheater, hatte aber die Schule nur bis zur achten Klasse besucht, weshalb sie Abendkurse belegt hatte. Ich spielte im Gras, als sie plötzlich meiner Großmutter zurief: ‚Schau doch mal, ein Luftkampf von Flugzeugen, was ist da passiert?‘ Wenig später kam unser Nachbar und sagte völlig entgeistert, es sei Krieg, die Deutschen hätten angegriffen.“

Mit einer Flasche Wodka organisierte die Mutter von Nadeschda ein Auto, welches Mutter, Großmutter und Enkelin am 24. Juni nach Minsk brachte, wo sie aber nicht bleiben konnten. „Die Stadt brannte schon. Auf der Fahrt dorthin kamen wir an einen Bahnübergang, sahen einen Zug kommen, haben jedoch den Übergang noch schnell überquert. Ein Flugzeug hatte Bomben auf den Zug abgeworfen, und ich war neugierig, was geschehen würde. Aber meine Mutter drehte meinen Kopf weg, sodass ich nichts sehen konnte. Es krachte ständig, ich weiß noch, die Geschosse flogen mit einem Pfeifen herab, dass es einem die Seele zerriss. Diesen Ton werde ich nie vergessen.“ In Stadtzentrum von Minsk brannte es schon. So schloss sich die Familie einem Treck Richtung Moskau an.

In Weißrussland richtete die deutsche Wehrmacht schreckliche Verbrechen an. Nach Angaben  des Generalstaatsanwaltes von Weißrussland,  Andrej Schwed, vom Juni 2023, wurden während der deutschen Okkupation 200 Städte in Weißrussland zerstört, darunter Minsk, Gomel, Witebsk, Polozk und Orscha. Zerstört oder vollständig vernichtet wurden 11.700 Dörfer. In 270 Dörfern – darunter in dem bekannten Dorf Katyn – wurden Zivilisten in Häusern und Scheunen verbrannt.

Während des Krieges seien in Weißrussland drei Millionen Zivilisten und Kriegsgefangene – das bedeutete jeder dritte Einwohner von Weißrussland – getötet worden, erklärte Generalstaatsanwalt Schwed. Er bezeichnete das Vorgehen der deutschen Wehrmacht und anderer deutscher Verbände, die von ukrainischen Hilfspolizisten unterstützt wurden, als Genozid.

Hungern in Leningrad

Die Einwohnerin von Leningrad, Klawdija Kuleschowa, war am 22. Juni 1941 24 Jahre alt. Sie arbeitete damals in der Leitzentrale des Seeschiffverkehrs. Vom deutschen Angriff hörte sie in einem Park auf der Krestowski-Insel, nördlich des Stadtzentrums. „Ich hatte gerade meine Kleidung abgelegt und wollte schwimmen. Da wurde die Rede von Molotow (sowjetischer Außenminister) übertragen. Er sagte, der Krieg hat angefangen.“ Ich traf Klawdija Kuleschowa 2020 in ihrer Wohnung in St. Petersburg. Sie erzählte mir ihre Geschichte.

Als die 872 Tage dauernde Blockade von Leningrad begann, ließ sich die Familie von Klawdija – bis auf den kranken Vater – nicht evakuieren.

Wenn die Mitglieder der Familie von der Arbeit kamen, habe es in der Wohnung immer die gleiche Zeremonie gegeben, erinnerte sich Klawdija. „Das heiße Wasser mit Graupen kochte schon. Ich teilte immer das Brot auf. Natürlich bekamen alle die gleiche Menge. Für jeden gab es 125 Gramm. Eine Waage gab es nicht. Doch wie ich auch schneidete, für mich blieb immer das kleinste Stück über. Ich war eigentlich die Kräftigste, aber es kam so, dass ich die am meisten Ausgezehrte war und als erste krank wurde.“

Nur mit Hilfe einer Nachbarin, die Klawdija in ein Dorf nördlich von Leningrad brachte, wo sie von einem Arzt versorgt wurde, überlebte sie. Am Ende unseres Gesprächs sagt Klawdija, dass sie keinen Groll auf die Deutschen habe. Ich umarmte und küsste sie und wünschte ihr Glück und Gesundheit.

Bei der Blockade in Leningrad starben eine Millionen Menschen an Hunger und Krankheiten. Die russische Regierung spricht von Völkermord. Die deutsche Regierung will von dieser Klassifizierung nichts wissen und verweigert eine Entschädigung für alle Blockade-Opfer.

Flucht aus Tula

Maria Iwanowna war 22 Jahre alt, als der Krieg begann. Sie lebte mit ihrem Mann Sergej, einem Agronomen auf eine Sowchose südlich von Moskau in der Nähe von Tula. Dort arbeitete ihr Mann auf einer Apfelplantage.

Der Krieg war wie eine Walze, die alles unter sich begrub, erinnerte sich Maria. Im Herbst 1941 musste Maria – ihr Mann war bereits seit drei Monaten bei der Armee – mit ihren beiden Söhnen, zweieinhalb und dreieinhalb Jahre alt, von Tula in die im Süden gelegene Stadt Rjasan fliehen. Für die gut 150 Kilometer lange Strecke in einem Frachtwaggon der Eisenbahn brauchte sie mehrere Tage. Immer wieder musste der Zug auf Abstellgleisen oder Bahnhöfen warten, um Transporte mit Soldaten und Panzern in Richtung Front passieren zu lassen. Da Marias Güterwagen nicht beheizt war, wickelte sie sich die nassen Windeln zum Trocknen um den eigenen Körper. Unterwegs griffen den Zug mehrfach deutsche Flugzeuge an. Bei einem dieser Überfälle wurde Maria nicht nur an der Schulter verletzt, sondern verlor in der Panik auch ihre Söhne Leonid und Anatoli aus den Augen.

Erst Tage später und schon völlig verzweifelt fand sie ihre beiden Söhne in einem Dorf bei fremden Menschen wieder, die sie aufgenommen hatten und ihr berichteten, sie hätten die Jungen nur mit Mühe trennen können. Anatoli habe die Hand seines kleinen Bruders nicht loslassen wollen.

Anatoli, heute ein pensionierter Lehrer und 86 Jahre alt, kann sich an die schrecklichen Stunden noch gut erinnern. „Ich höre das Krachen der Einschläge, die Schreie und das Weinen. Wenn in einem Film solche Geräusche vorkommen, muss ich unwillkürlich an den Zug nach Rjasan denken, der nie ankam.“

Im Zweiten Weltkrieg starben  26,6 Millionen Sowjetbürger, darunter 15,2 Millionen Zivilisten.

Die Lieder der Russen

Das erste Mal, dass ich ein russisches Lied über den Zweiten Weltkrieg hörte,  das mir unter die Haut ging, war im Jahre 2002. Damals lebte ich schon zehn Jahre in Russland. Ich saß in der Wohnung eines Moskauer Architekten mit ein paar Künstlern zusammen. Alle waren jünger als ich.

Irgendwann nach Mitternacht, die U-Bahn fuhr schon nicht mehr, stimmten meine Bekannten ein Lied an. „Tjomnaja notsch, tolko puli swistjat po stepi“ („Dunkle Nacht, nur die Kugeln pfeifen über die Steppe, nur der Wind brummt in den Leitungen, die Sterne flimmern matt“).

Mir war schon klar, dass dieses in langsamen Tempo gesungene Lied vom Kampf gegen die deutsche Wehrmacht handelte. Aber weil es schon Nacht war, die Gesichter meiner Bekannten sehr ernst guckten und ich das Lied nur teilweise verstand, war mir irgendwie unheimlich zu Mute. Erst später erfuhr ich, dass es ein Liebeslied war, von einem sowjetischen Soldaten, der an der Front an seine Geliebte denkt, die mit dem Kind zuhause sitzt.

Das zweite Mal, dass mir ein russisches Lied unter die Haut ging, war am 9. Mai 2019 auf dem Marsch des „Unsterblichen Regiments“ durch Moskau.

Mehrere Zehntausend Menschen zogen mit den Porträts ihrer Angehörigen, die im Krieg gegen Deutschland gekämpft hatten, Richtung Innenstadt. In der Twerskaja-Straße – früher Gorki-Straße – die von der U-Bahnstation Majakowskaja fast direkt zum Kreml führt, hörte man aus den Lautsprechern am Straßenrand Lieder aus dem „Großen Vaterländischen Krieg“.

Lied von dem „Unbekannten Dorf auf der namenlosen Höhe“

Die Menschen sangen die Lieder mit. Kurz bevor wir den Roten Platz erreichten, ertönte das Lied von dem „Unbekannten Dorf auf der namenlosen Höhe“.

Das Lied wurde im Vier-Viertel-Takt gesungen. Aber die Melodie überwölbte zärtlich den Takt, was die schreckliche und gleichzeitig romantische Schilderung in dem Lied verstärkte. Da war die Rede von einer Nacht, in der eine Rakete vom Himmel fiel, „wie ein wie ein verbrannter Stern“, von Messerschmidt-Flugzeugen am Himmel, einer verbrannten Kiefer, einer Erdhöhle und der festen Freundschaft der Soldaten.

Mir schien, dass dieses Lied nicht von einem unbekannten Dorf, sondern von Zehntausenden Dörfern handelte, deren Namen niemand kannte oder nicht erinnerte.

Die Erinnerungen an den Großen Vaterländischen Krieg werden in Russland vor allem durch sowjetische Lieder und Filme wachgehalten, die zu den wichtigen Jahrestagen im Fernsehen gezeigt werden. Doch in der Jugend sind sie nicht so verankert wie in der älteren Generation. Bis zum Einmarsch in der Ukraine, also bis zu dem Zeitpunkt, als Russland begann, faktisch in einer Art Kriegszustand zu leben, war es zu merkwürdigen Vorfällen gekommen. Jugendliche provozierten an Gedenkstätten des Zweiten Weltkrieges in der russischen Provinz mit Würstchen-Grillen am Feuer des Unbekannten Soldaten oder Foto-Sessions in knapper Bekleidung.

Derartige Vorfälle gibt es jetzt nicht mehr. Und es sind neue Lieder entstanden, die auch unter Jugendlichen populär sind. In diesem Zusammenhang genannt werden muss der Sänger Shaman. Er singt unter anderem patriotische Lieder und positioniert sich auch aktuell auf der Seite Russlands, zum Beispiel in dem Lied „Eto moj boj“ („Das ist mein Kampf“). In dem Lied singt er: „Wer sagt, dass die Sterne längst erloschen sind, dass es keine Freundschaft gibt und Geld das Wichtigste ist? Selbst wenn die Flamme sich in Eis verwandelt, beiße ich die Zähne zusammen und sage mir selbst, nur vorwärts!“

Von Ulrich Heyden erschien im Februar das Buch: „Mein Weg nach Russland. Erinnerungen eines Reporters“. Print: € 25,00. ISBN: 978-3-85371-528-4. E-Book: € 19,99. ISBN: 978-3-85371-915-2.

veröffentlicht in: Overton-Magazin

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