27. January 2023

»Wir vergessen nicht!« (Junge Welt) Teil 1

Victor BerezkinZUMA Press/imago, Die Aktion »Unsterbliches Regiment«: Den gefallenen Soldaten der Roten Armee gewidmet (Moskau, 9.5.2022)
Foto: Victor BerezkinZUMA Press/imago, Die Aktion »Unsterbliches Regiment«: Den gefallenen Soldaten der Roten Armee gewidmet (Moskau, 9.5.2022)

Aus: Ausgabe vom 28.01.2023, Seite 6 / Ausland

REPORTAGE AUS RUSSLAND

»Wir vergessen nicht!«

Stimmen aus Russland: Überfall auf UdSSR bleibt im Gedächtnis. Teil 1

Von Ulrich Heyden, Moskau

»Berlin und Paris einnehmen! Und nie wieder abziehen!« bellte der bekannte russische Fernsehmoderator Wladimir Solowjow am 20. Januar in die Kamera. Es war eine Reaktion auf die Forderung ukrainischer Berater und Journalisten nach Angriffen auf große russische Städte und Panzerlieferungen aus Deutschland. Gorbatschow und Jelzin, »die unsere Streitkräfte aus Osteuropa abgezogen haben«, seien »Dummköpfe« gewesen. Auch Chruschtschow habe sich dumm verhalten, als er die sowjetische Militärbasis Porkkala in Finnland 1955 dichtmachte. »Die Amerikaner haben nach dem Zweiten Weltkrieg einen Teil Europas okkupiert, warum sind wir nach Hause gegangen?« erklärte Solowjow zornig.

Zweifellos trifft Solowjow die Gefühlslage vieler Russen, die schon länger meinen, dass Russland dem Westen in den vergangenen 30 Jahren zu viele Zugeständnisse gemacht habe. Als die Entscheidung über die Lieferung von »Leopard«-Panzern an die Ukraine gefallen war, wurde der Ton in den großen russischen Polittalkshows noch mal schärfer.

Am Donnerstag erklärte der Journalist Andrej Sidortschik in der täglich ausgestrahlten Sendung »60 Minuten«, die deutsche Panzer würden bald »über die Gräber russischer Soldaten fahren«, die im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine gefallen sind. Olaf Scholz habe einen »Weg zur Wiederauferstehung der DDR« eröffnet und sei »ein Militarist wie Hitler«. An dieser Stelle zeigte der Fernsehkanal Rossija 1 den mit den Armen gestikulierenden Scholz neben dem gestikulierenden Hitler.

Alte Wunden platzen in Russland jetzt wieder auf. Eine Bekannte schrieb mir: »Wir fahren als Touristen nach Deutschland, fast jeder hat gute Bekannte dort, wir schätzen diese sehr und lieben sie sogar. Aber! Das russische Volk hat den Deutschen nichts vergessen und nichts vergeben. Die Auseinandersetzungen in der Ukraine sind furchtbar und zeugen von Unfähigkeit. Die Deutschen sollten wissen, dass die Russen in der Ukraine-Frage gespalten sind. Wenn der Westen allerdings – und besonders Deutschland – an unser Land ran will, werden wir uns zusammenschließen, egal ob klein oder groß. Und keinem wird die Hand zittern, weder am Abzug eines Gewehrs noch beim Drücken eines Start- oder eines sonstigen Knopfes.

Der Hass darauf, was die Deutschen damals getan haben, ist nicht verschwunden. Und der Hass darauf, dass eure alten Leute, die früheren Soldaten, im Ergebnis viel besser leben als unsere alten Leute, die die Welt vom Faschismus gerettet haben, führt dazu, dass niemand fragen wird, wer schuld ist, der Westen oder unsere Verräter. Deutschland muss jetzt still sein. Die ganze deutsche Nation muss jetzt beten, dass die Russen die Deutschen vergessen. Aber wir vergessen nicht!«

Der Moskauer Soziologe Boris Kagarlizki, der unter Breschnew wegen der Gründung eines sozialistischen Studentenzirkels 13 Monate inhaftiert war, klagte kürzlich, der Westen stabilisiere mit seiner Politik »die Herrschaft Putins«. Von einer nationalen Einheitsfront gegen den Westen will Kagarlizki nichts wissen. Vor ein paar Jahren noch hatte er Wladimir Putin gegen überzogene Angriffe seitens westlicher Medien in Schutz genommen.

Seit der Heraufsetzung des Renteneintrittsalters in Russland 2018 ist der bekannte Buchautor und Aktivist auf einen scharfen Anti-Putin-Kurs eingeschwenkt, was vermutlich dadurch verstärkt wurde, dass der Soziologe im September 2021 wegen eines Aufrufs zu einem Treffen mit Abgeordneten der KPRF unter freiem Himmel weitere zehn Tage im Gefängnis verbringen musste. Die Rechtslage bei politischen Versammlungen ist in Russland nicht eindeutig. Oppositionelle Kundgebungen sind in Moskau seit Beginn der Coronapandemie nicht mehr erlaubt, Treffen mit Abgeordneten unter freiem Himmel schon.

Die »Spezialoperation« in der Ukraine lehnt Kagarlizki ab, wenn auch in verklausulierten Worten, denn er wurde als »ausländischer Agent« gelistet und fürchtet weitere staatliche Maßnahmen. Bislang ein scharfer Kritiker des Neoliberalismus, streckt er seine Fühler jetzt zu den Liberalen aus. Er kritisiert die Haftstrafe gegen Alexej Nawalny, den er früher kritisiert hatte, und lädt die Bloggerin Xenija Sobtschak – einen Star der liberalen Szene – zu einem freundlichen Gespräch auf seinem Youtube-Kanal »Rabkor« ein.

veröffentlicht in: Junge Welt

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