Abgründe im Bolschoi
Ballett-Meister Sergej Filin ist fast erblindet. Doch sein Gegner spricht von Schauspielerei.
Von Ulrich Heyden, SZ-Korrespondent in Moskau
Sergej Filin ist empört. Der 42-jährige Ballett-Meister des Bolschoi-Theaters protestiert gegen Unterstellungen, er würde simulieren. Im Januar wurde er Opfer eines Säure-Attentats. Seit Februar kämpfen Spezialisten in der Aachener Uniklinik um sein Augenlicht.
Der inzwischen gekündigte Startänzer Nikolai Ziskaridse hatte in einer Talkshow erklärt, die Verletzungen seien nicht so gravierend wie von Filin behauptet. Filin erwiderte, er sei bereits 18-mal operiert worden. „Auf meinem rechten Auge sehe ich nichts, mit dem linken Auge sehe ich nur zu zehn Prozent.“ Er sei „zutiefst verletzt“ über die „schmutzige Lüge“.
Die Ärzte des Moskauer Krankenhauses Nr. 36, die ihn unmittelbar nach dem Anschlag behandelt hatten, nannten die Behauptungen von Ziskaridse „lächerlich“. Ein Professor der Uniklinik Aachen, wo Filin behandelt wird, erklärte, bei dem linken Auge gäbe es „Verbesserungen“, aber die Behandlung sei noch nicht abgeschlossen. Wahrscheinlich seien noch weitere Operationen nötig.
Filin selbst glaubt an den Erfolg der Behandlung. „Ich bin voller Kraft, und in mir ist Glaube und Wille.“ Zusammen mit den Ärzten sei ein „großes Ergebnis“ möglich. Er könne schon einzelne Gegenstände unterscheiden und sogar Zahlen erkennen. Zu den Ermittlungen sagte er, dass der mutmaßliche Auftraggeber des Säure-Anschlags, der Solo-Tänzer Pawel Dmitritschenko, zu den Personen gehöre, die er selbst der Tat verdächtigt hatte.
Dmitritschenko und zwei andere Verdächtige sitzen seit März in Untersuchungshaft, die gerade um zwei Monate verlängert wurde. Der 29-Jährige soll den Anschlag in Auftrag gegeben haben. Sein Motiv soll Rache für eine befreundete Tänzerin gewesen sein, der Filin Hauptrollen verweigert haben soll.
Juri Saruzki, der Filin in der Nacht des 17. Januar die Säure ins Gesicht schüttete, widerspricht allerdings dieser Version. Dmitritschenko habe ihn von der Tat abhalten wollen, so Saruzki. Doch nach dessen Erzählungen über die Zustände im Bolschoi habe er beschlossen, Filin „zu erniedrigen“.
Er habe den Ballett-Meister aber nicht schwer verletzen wollen und deswegen keine Schwefelsäure gewählt, sondern mit Urin vermischtes Elektrolyt. Elektrolyt wird für die Füllung von Autobatterien verwendet. Besonders verärgert sei er darüber gewesen, dass Filin seine Mitarbeiter anschreie. Als weiteren Grund gab Saruzki an, dass er eigentlich seine Tochter in die Ballett-Schule des Bolschoi schicken wollte.
Allen drei Tatverdächtigen, dem angeblichen Auftraggeber Pawel Dmitritschenko, dem Täter Juri Saruzki und dessen Fahrer Andrej Lipatow, drohen wegen schwerer Körperverletzung und Verschwörung zwölf Jahre Gefängnis. Pawel Dmitritschenko hatte sich unmittelbar nach seiner Festnahme im März schuldig bekannt, sein Geständnis dann aber widerrufen.
300 Mitarbeiter des Bolschoi-Theaters hatten sich in einem offenen Brief an Präsident Wladimir Putin mit Dmitritschenko solidarisiert. Trotz des „heftigen Temperaments, der Schärfe und Direktheit“ des Solo-Tänzers seien die Vorwürfe „absurd“. Dmitritschenko sei ein „zutiefst anständiger und hilfsbereiter Mensch“.
Der Generaldirektor des Bolschoi-Theaters, Anatoli Iksanow, verdächtigte bereits unmittelbar nach dem Anschlag den aus Georgien stammenden Startänzer Nikolai Ziskaridse als Hintermann des Attentats. Der entlassene Ziskaridse habe im Theater mit mehreren Skandalen ein Betriebsklima geschaffen, das die Tat möglich gemacht habe. Ziskaridse strebte angeblich selbst den Direktorenposten an, doch dem Karrieresprung kam die Kündigung zuvor.
Der 39-jährige Ziskaridse tanzte seit 1992 viele Hauptrollen im Bolschoi. Zum Problem für Filin könnte werden, dass Ziskaridse offenbar mächtige Fürsprecher in der Moskauer Oberschicht hat, wie die bekannte russische Journalistin Julia Latynina in einem Internet-Portal schrieb. Ein Unternehmer soll sich sogar bei Wladimir Putin für ihn eingesetzt haben.
veröffentlich in: Sächsische Zeitung