18. August 2009

Allahs strafende Hand

Eine neue Terrorwelle des islamistischen Untergrunds hält den russischen Nordkaukasus und die dortigen Republiken in Atem. Der Kreml droht die Kontrolle zu verlieren.

„Ich hörte die Explosion, habe die Kinder genommen und bin aus dem Haus gerannt.“ Der ältere Herr mit dem weißen Hut wirkt ruhig. Er hat offenbar schon einiges erlebt.

Bei dem Selbstmordanschlag in Nasran, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Inguschetien, werden an diesem 17. August 20 Menschen getötet und 60 Personen verletzt, darunter neun Kinder. Die Bombe hat nach offizieller Mitteilung eine Stärke von einer Tonne Sprengstoff. Ein Selbstmordattentäter durchbricht gegen neun Uhr morgens mit einem Kleinbus das Tor zum Polizeihauptquartier von Nasran und rast direkt auf das Gebäude zut, wo gerade die örtliche Polizei zum Morgenappell Aufstellung nimmt. Das Polizei-Gebäude brennt aus. Auch ein benachbartes Wohnhaus wird schwer beschädigt. Die Bilder erinnern an einen Krieg. Über dem Platz liegen noch den ganzen Tag über Rauchschwaden.

Es war der schwerste Terrorakt im Nordkaukasus seit Jahren. Polizisten hatten noch versucht, das Fahrzeug mit Schüssen zu stoppen, doch ohne Erfolg. Das Attentat war offenbar als Begrüßung für den Präsidenten Inguschetiens, Junus-Bek Ewkurow gedacht, der gerade aus einem Krankenhaus in Moskau in die Verwaltungshauptstadt Nasran zurückgekehrt war und wieder sein Amt antreten wollte. In Moskau hatte Jewkurow die Folgen eines Bombenanschlags auskuriert, der ihn Ende Juni trotz eines gepanzerten Mercedes fast das Leben gekostet hatte.
Krieg gegen Frauen

Der islamistische Terror hält den Nordkaukasus seit Wochen in Atem. Am 13. August werden sieben Mitarbeiterinnen einer Sauna im dagestanischen Bujnaksk von einer islamistischen Bande ermordet. Als sie die Schüsse hören, verbarrikadieren sich die Frauen in einer Küche, werden aber aufgespürt. Kurz zuvor hat die Bande einen nahe gelegenen Polizeiposten überfallen, vier Polizisten getötet und deren Kalaschnikows erbeutet. Dann wird der Fahrer eines Mikro-Busses gezwungen, zur Sauna Olimp zu fahren. Wie Alexander Bastyrkin, der Chef des russischen Ermittlungsteams, wenig später mitteilt, steht die 15köpfige Bande unter dem Kommando des 48 Jahre alten Nabi Migitdinow, der sich zum „Emir“ für die Region Bujnaksk ernannt hat und so schnell wieder verschwindet, wie er mit seinen Komplizen auftaucht.

Anfang August hat eine Initiativgruppe der Moslems von Schamilkala (islamistische Bezeichnung für Machatschkala, die Hauptstadt Dagestans) auf der Website Kafkaz Center alle „Zuhälter und Sauna-Besitzer“ aufgefordert, ihre Einrichtungen zu schließen, es werde sie ansonsten die strafende Hand Allahs treffen. Das erste Mal versucht ein fanatischer Untergrund im Nordkaukasus, mit Strafaktionen eine fundamentalistische Lebensweise durchzusetzen. Im Februar 2006 sterben im nordossetischen Wladikawkas bei einem Anschlag auf eine Spielhölle zwei Menschen. Ende November 2008 werden in den tschetschenischen Städten Grosny und Gudermes sieben junge Frauen mit gezielten Kopfschüssen getötet.

Der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow, der sich gern als starker Mann präsentiert, kann nicht verhehlen, dass er von den Exremisten unter Druck gesetzt wird und nachgeben muss. 2006 verbietet er Glücksspiele in seiner Republik und verlangt von den Frauen, sie sollten lange Röcke sowie Kopftücher tragen und die Arme bedeckt halten. „Eine Frau muss wissen, wo ihr Platz ist“, so Kadyrow. Wenn sie „über die Stränge schlägt“, werde sie von den Verwandten getötet. „So sind unsere Sitten“.

Doch der jetzige Mord an den sieben Sauna-Mitarbeiterinnen lässt erkennen, dass Konzessionen wenig nützen, auch wenn der Innenminister Dagestans davon überzeugt ist, derartige Exzesse würden vom „aus dem Ausland angeheizt“. Die Menschen in Dagestan hätten „keinen Grund sich gegenseitig umzubringen“. Wie die Republik zu islamischen Terroristen stehe, habe sie vor zehn Jahren gezeigt, als zusammen mit russischen Soldaten mehrere Hundert Terroristen vernichtet wurden, die unter Führung tschetschenischen Feldkommandeurs Schamil Basajew standen.

Zweifelhafte Entwarnung

Andrej Grosin vom GUS-Institut an der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau glaubt, die Freischärler im Nordkaukasus hätten für einen „breit angelegten terroristischen Krieg“ nicht genug Kraft. Zu groß angelegten Militäroperationen, wie sie Basajew vor zehn Jahren unternahm, seien sie nicht in der Lage. Tatsächlich sind jedoch auch in jüngster Zeit mehrere große terroristische Aktionen. Im Juni 2004 fielen 200 Gotteskrieger in das inguschetische Verwaltungszentrum Nasran ein und erschossen 98 Menschen – Polizisten, Geheimdienstmitarbeiter und Staatsanwälte – auf offener Straße. Am 1. September 2004 kam es zu einem grauenhaften Anschlag auf eine Schule im nordossetischen Beslan. Über 1.000 Schüler, Lehrer und Eltern wurden als Geiseln genommen, und bei der Befreiung drei Tage später kamen 310 Menschen ums Leben. Im Oktober 2005 überfielen 60 Bewaffnete die Stadt Naltschik, das Verwaltungszentrum der Teilrepublik Kabardino-Balkarien – es gab 45 Tote.

Die Welle der Verbrechen im Nordkaukasus hat mehrere Gründe. Der Tschetschenienkrieg mit Tausenden von Toten hat das feine Netz der sozialen Strukturen im Nordkaukasus zerstört. Die Arbeitslosigkeit liegt über 50 Prozent. Der Kreml hat die Macht in den nordkaukasischen Teilrepubliken korrupten, oft autoritär regierenden Verwaltern übertragen. Im Kampf der Tschetschenen um Unabhängigkeit von Russland spielten radikale Islamisten in den neunziger Jahren noch eine marginale Rolle. Inzwischen sind die Islamisten – oder Wahhabiten, wie sie im Nordkaukasus genannt werden – die treibende politische Kraft. Sie machen sich die soziale Notlage und das moralische Vakuum zu Nutze und versucht mit gewaltsamen Strafaktionen, ihre Lebensregeln durchzusetzen.

Die radikale Islamismus im Nordkaukasus ist keine Erfindung des Kreml, mit dem der Säuberungsaktionen im Nordkaukasus rechtfertigen will. Tatsache ist aber auch, dass der einseitige Rückgriff auf Polizei-Aktionen die Probleme nicht löst. Um die Region zu befrieden, müsste die sozialen Strukturen, die der Tschetschenien-Krieg zerstörte, reaktiviert werden.

"Der Freitag"

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