26. June 2023

Bevölkerung bleibt gelassen (Junge Welt)

Bitte lächeln auf dem Roten Platz: Kremlbesucher am Wochenende in Moskau (25.6.2023) - Sergei Karpukhin/ITAR-TASS/imago
Foto: Bitte lächeln auf dem Roten Platz: Kremlbesucher am Wochenende in Moskau (25.6.2023) - Sergei Karpukhin/ITAR-TASS/imago

Aus: Ausgabe vom 27.06.2023, Seite 7 / Ausland

KRIEG IN OSTEUROPA

Einwohner der russischen Hauptstadt verfolgten Putschversuch ohne große Beunruhigung. Nur wenige packten den Notrucksack. Eindrücke aus Moskau

Von Ulrich Heyden, Moskau

Ganz Moskau schien am Sonntag über das Vorrücken der »Wagner«-Leute zu reden. Auf dem Weg in einen Park traf ich eine Gruppe von Männern, die laut über den Putschversuch redeten. Als ich einen der Männer ansprach, lobte er Prigoschin als »guten Kämpfer«. Der russische Präsident dagegen sei schwach, weil er vor der »fünften Kolonne«, dem Teil der russischen Elite, die Russland weiter nach westlichen Maßstäben ummodeln will, zurückweiche.

Später spazierten vor mir zwei Damen, beide über 80. Eine sagte so laut, dass es nicht zu überhören war: »Eine Revolution kann auch ganz zufällig kommen.« Ich fragte, ob Russland in Gefahr sei. »Nein«, meinten beide. »Das russische Volk ist ruhig. Es schweigt und hört auf den, der auf dem Stuhl der Macht sitzt.« Die jüngere der beiden hatte sich Prigoschins Rechtfertigung des Putschversuches im Internet angehört. Das Internet spielt in Russland eine große Rolle.

Am Montag befragte ich Passanten vor einem Einkaufszentrum im Westen von Moskau. Nahezu einhellig hörte ich die Meinung, es habe am Wochenende keine Panikstimmung gegeben. Fast alle meinten gefühlt zu haben, dass die Sache friedlich endet.

Eine Studentin des Moskauer Luftfahrtinstituts, die eine Brille mit lilafarbenen Gläsern trug, an denen kleine bunte Herzen baumelten, erklärte, sie habe sich schon an außerordentliche Situationen gewöhnt. Die letzte sei die Coronapandemie gewesen. Ein Mitstudent mit weißem Hemd und dunklem Jackett meinte, er sei nicht davon ausgegangen, dass es zu Blutvergießen komme. Das Höchste, womit er gerechnet habe, sei eine Demonstration in Moskau.

Ein Intellektueller, dessen Söhne Russland »wegen der politischen Entwicklung« verlassen haben, erzählte, er habe weder für die Regierung noch für die Aufständischen Sympathien. Alle würden sich nur »bereichern«. Der russische Präsident werde Prigoschin auf irgendeine Art bestrafen.

Eine Verkäuferin schüttete mir ihr Herz aus. Die Frau war mit ihrer Familie 2017 wegen des Beschusses durch die ukrainische Armee aus Donezk nach Moskau geflüchtet. Am Sonnabend habe sie mit ihrer Tochter und dem Schwager alles für eine Flucht in »irgendein Dorf im Norden« vorbereitet. »Wir wissen, was Krieg bedeutet, und wir wissen, wie man sich vorbereiten muss.« Die Tochter habe Dosenfleisch, Nudeln, Gaskartuschen für einen Brenner und Toilettenpapier eingekauft. »Ich habe die Rucksäcke geschnürt.«

In Moskau war es am Wochenende ruhig. Bürgermeister Sergej Sobjanin hatte zwar am Sonnabend für Moskau einen besonderen Ausnahmezustand ausgerufen, bei dem zur Terrorabwehr Auto- und Ausweiskontrollen sowie Abhörmaßnahmen möglich sind, aber in meinem Wohnbezirk im Westen von Moskau war davon nichts zu bemerken. Der Betrieb der öffentlichen Verkehrsmittel war nicht eingeschränkt.

Für die Schulabgänger gab es eine bittere Pille. Alle Feiern der Abgangsklassen wurden abgesagt und auf den 1. Juli verschoben. Die Antiterrormaßnahmen blieben in Moskau noch bis Montag mittag in Kraft. Bürgermeister Sobjanin hatte am Sonnabend möglicherweise in Erwartung von Ausschreitungen den Montag zum arbeitsfreien Tag erklärt. An der Moskauer Universität MGU wurden am Montag Onlinevorlesungen gehalten. In den Kindergärten gab es nur einen Notdienst. In den Parks »Sokolniki« und »Gorki« wurden Veranstaltungen abgesagt.

Auch bei Banken und im Luftverkehr machte sich der Putschversuch bemerkbar. Der Euro-Kurs bei der Gasprom-Bank stieg von 94,1 auf 98 Rubel. Auch die Ticketpreise für Flüge ins Ausland zogen zunächst rapide an, pendelten sich aber am Sonntag wieder auf das gewöhnliche Niveau ein.

Dramatischer als die meisten meiner Gesprächspartner kommentierte das liberale Massenblatt Moskowski Komsomolez am Montag den Putschversuch. Es schrieb: »Russland hat sich schnell dem Rand des Abgrunds genähert und sich nicht weniger schnell wieder von ihm wegbewegt. Vielen Dank, Alexander Lukaschenko! Dank ihm gelang es, eine schlimmere Entwicklung zu vermeiden. Aber es ist etwas geblieben. Russlands politisches System hat seine Verletzlichkeit gezeigt – zur Freude der Feinde und zum Erstaunen von Freunden und Neutralen.«

veröffentlicht in: Junge Welt

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