3. June 2010

„Big Brother“ im Dienst der Raumfahrt

Von Ulrich Heyden, SZ-Korrespondent in Moskau

Sechs Männer lassen sich ab heute in Moskau für fast eineinhalb Jahre in einen Container sperren – ein simulierter Flug zum Mars.

Das imaginäre Raumschiff zum Mars besteht aus vier Modulen. Sie stehen in einer Halle im streng geheimen Moskauer Institut für biomedizinische Probleme. An Bord gehen heute für 520 Tage vier Russen, ein Italiener, ein Franzose und ein Chinese.

In ihrem Container, der im Stil der 70er-Jahre eingerichtet ist, haben die sechs „Astronauten“ im Alter zwischen 26 und 38Jahren fast alles, was man für einen Marsflug braucht: Tiefkühlkost, Tiefkühlobst und Früchteriegel für eineinhalb Jahre – insgesamt vier Tonnen Lebensmittel. Außerdem gibt es ein Sportlaufband, Computerspiele und etwas Alkohol für die Feiertage.

An dem Isolationsexperiment von Roskosmos und Esa, der Raumfahrtagenturen Russlands und der Europäer, ist auch das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) mit zahlreichen medizinischen Experimenten beteiligt. Erforscht werden gruppendynamische Prozesse, Fragen des Knochenstoffwechsels und der Mikroben in der Raumstation ebenso wie die Frage, welche Lichtquellen sich im dunklen Weltraum günstig auf die Arbeits- und Ruhezeiten des Menschen auswirken.

Dass die Isolationstests zur Vorbereitung des Mars-Fluges schon jetzt wichtige Ergebnisse bringen, berichtet der Erlanger Mediziner Jens Titze. So habe er während des vorangegangenen 105-Tage-Experiments beweisen können, dass eine Verminderung der Salzaufnahme zur Senkung des Blutdrucks führt.

„Eher der Anglertyp“

Langeweile werden die sechs Männer nicht haben, meint DLR-Projektleiter Peter Gräf. Jeden Tag gibt es ein festes Programm. Es beginnt mit der Messung des Blutdrucks und anderer medizinischer Daten. Außerdem müssen die Männer 105 wissenschaftliche Experimente durchführen.

Bedeutsam ist vor allem die Erforschung der Prozesse in der Gruppe. Denn die Monotonie auf dem Langzeitflug führt erfahrungsgemäß zur Verstärkung von Sympathie und Antipathie. Zwischenfälle, wie bei einem Langzeit-Experiment 1999, will man mit Hilfe von Beratern „auf der Erde“ vermeiden. Damals hatte ein Russe in der Neujahrsnacht versucht, eine Kanadierin zu küssen, was zu einer blutigen Schlägerei und zur Spaltung der Crew in zwei verfeindete Gruppen führte. Die Russen argumentierten, Küsse und eine richtige Schlägerei gehörten nun mal zu einer richtigen Feier dazu.

Um die Test-Raumfahrer bei Laune zu halten, haben sich die Wissenschaftler einiges überlegt. So dürfen sie wieder Tomaten und Paprika in einem Gewächshaus ziehen. Die Marsoberfläche wurde mit rotem Sand und Steinen nachgestellt. Wenn drei Astronauten dann auf dem „Roten Planeten“ abgestiegen sind, dürfen sie mit einem Mars-Rover durch den Sand kurven.

Die Auswahl der Test-Personen sei sehr streng gewesen, sagt Gräf. Mitmachen durften nur Leute mit „niedrigem Aggressionspotential“, sagt er. „Also eher der Anglertyp.“

Während des Isolationsexperiments sind in dem imaginären Raumschiff 40 Kameras im Einsatz. Das klingt stark nach „Big Brother“, doch dienten diese ausschließlich der Sicherheit der sechs Teilnehmer, sagt Gräf. Eine vollständige Überwachung gebe es nicht. Die Toilette und der drei Quadratmeter große Schlafraum seien nicht kameraüberwacht.

Was während der 520 Tage auf der Erde passiert, bekommen die sechs Männer nur bruchstückhaft mit. Täglich gibt es eine schriftliche Presseschau mit den wichtigsten Nachrichten, aber kein Radio und kein Fernsehen.

Dass man die engsten Angehörigen nicht um sich habe, sei eine der größten Belastungen, berichtet Oliver Knickel, Bundeswehroffizier aus Hamburg, der an dem vorangegangenen 105-Tage-Experiment beteiligt war.

Erschwerend ist auch, dass die Kommunikation mit dem Kontrollzentrum in Echtzeit eines MarsFluges läuft. Denn je weiter ein Mars-Raumschiff von der Erde entfernt ist, desto mehr verzögert sich die Vermittlung von E-Mails und Telefon-Signalen – im Höchstfall bis zu zwanzig Minuten.

"Sächsische Zeitung"

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