6. January 2022

„Bunte Revolution“ nun auch im bisher stabilen Kasachstan (Nachdenkseiten)

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06. Januar 2022 um 8:46 Ein Artikel von Ulrich Heyden | Verantwortlicher: Redaktion

Kasachstan war ein recht ruhiger, stabiler Staat. Wegen der reichen Öl- und Gasvorkommen war die soziale Situation besser als in allen anderen mittelasiatischen Republiken. Doch vor drei Tagen brachen in Kasachstan überraschend gewalttätige Unruhen aus. Im ganzen Land kam es zu Ausschreitungen gegen Regierungsgebäude und zu Plünderungen. Auslöser der Unruhen war eine Preiserhöhung für Flüssiggas, welches Autofahrer als Treibstoff nutzen.

Russische Beobachter meinen, es gäbe Anzeichen, dass der soziale Protest von Kräften aus dem Ausland finanziert wird. Putins Sprecher, Dmitri Peskow, erklärte am Mittwochmittag, die Macht in Kasachstan werde „alleine mit der Situation fertig“. Das „Wichtigste sei es, ausländische Einmischung zu verhindern.“ Am Mittwochabend bat der Präsident von Kasachstan, Kasym-Schomart Tokajew, um Hilfe der ODKB, einem Militärbündnis ehemaliger sowjetischer Staaten, dem auch Russland angehört. Der Leiter der ODKB, der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan, teilte in der Nacht auf Donnerstag mit, das Militärbündnis werde die von Kasachstan erbetene Hilfe schicken. Aus Moskau berichtet Ulrich Heyden.

Der Präsident von Kasachstan, Kasym-Schomart Tokajew, hat versucht, die Proteste zu bremsen, doch erfolglos. Tokajew versprach, „gesetzliche Forderungen“ der Protestierenden „zu prüfen“. Die Gas-Preise und die Preise für Grundnahrungsmittel ließ er einfrieren. Gleichzeitig forderte er die Bevölkerung auf, keinen „destruktiven Elementen“ zu folgen, welche „die Stabilität und Einheit unserer Gesellschaft sprengen wollen.“

In der Nacht auf den 5. Januar entließ Tokajew die Regierung und verhängte den Ausnahmezustand in Almaty und im westkasachischen Bezirk Mangistaussk. Außerdem entließ der Präsident den Leiter des Sicherheitsrates, Nursultan Nasarbajew, der von 1991 bis 2019 Präsident von Kasachstan war.

Doch die Proteste verschärften sich. In Almaty, der mit zwei Millionen Einwohnern größten Stadt von Kasachstan, stürmten Demonstranten das Gebäude des Geheimdienstes und der Stadtverwaltung. Die Stadtverwaltung brannte. 190 Personen wurden verletzt, berichtete das Portal Tengrinews.kz. unter Berufung auf das Gesundheitsministerium. Auch die Residenz des Präsidenten wurde besetzt. Acht Polizisten wurden getötet. Das Korrespondentenbüro des GUS-Fernsehkanals MIR wurde verwüstet. Auf Videos war zu sehen, wie Demonstranten Jagd auf Polizisten machten, sie verprügelten und entwaffneten.

Polizei ist den Demonstranten unterlegen

Nach Medienberichten übersteigt die Zahl der Demonstranten die Zahl der Polizisten um ein Weites. Die russische Nachrichtenagentur Ria berichtet, dass Polizisten teilweise zu den Demonstranten übergelaufen seien. Insgesamt wirkt das Agieren der kasachischen Sicherheitsorgane unentschlossen und erinnert an das zurückhaltende Agieren der Polizei während des Maidan in Kiew 2013/14.

Die Unruhen haben ganz Kasachstan erfasst. In zahlreichen Landesteilen wurde der Ausnahmezustand und eine nächtliche Ausgangssperre ausgerufen. Das Internet wurde abgestellt. Der bargeldlose Zahlungsverkehr wurde eingestellt. Aeroflot stellte seine Flüge nach Kasachstan ein. Gleichzeitig meldete Radio Echo Moskwy, ein russisches Flugzeug sei auf dem Weg nach Kasachstan, um den gestürzten Chef des Sicherheitsrates, Nasarbajew, auszufliegen. Bestätigungen für diese Meldung gab es nicht.

Nasarbajew ist eine Schlüsselfigur der guten Beziehungen zwischen Russland und Kasachstan. Er war der Initiator Eurasischen Wirtschaftsunion. Die Entwicklungen in Kasachstan seien auch eine Gefahr für die Südgrenze Russlands, schrieb die Moskauer Nesawisimaja Gaseta. „Moskau kann in seiner Nachbarschaft noch eine Ukraine bekommen.“

Die Beziehungen zwischen Russland und Kasachstan sind seit der Auflösung der Sowjetunion gut. 3,5 Millionen der 18 Millionen Bürger Kasachstans sind russischsprachig. Russisch ist die zweite offizielle Sprache des Landes.

Schüsse in Almaty

In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag kam es in Almaty, der mit zwei Millionen Einwohnern größten Stadt von Kasachstan, zu Schießereien. Es waren Schüsse aus automatischen Waffen zu hören.

Am Mittwochabend schließlich bat Präsident Tokajew das Militärbündnis ODKB, dem neben Kasachstan auch Russland, Weißrussland, Armenien, Kirgistan und Tadschikistan angehören, um Hilfe gegen „terroristische Banden“. Der Präsident erklärte, große Infrastrukturobjekte seien von „terroristischen Banden“ besetzt worden. „Man muss wissen, dass diese terroristischen Banden im Grunde ausländisch sind. Sie haben eine Ausbildung im Ausland erhalten. Ihren Angriff auf Kasachstan muss man als Akt der Aggression begreifen.“ Kirgistan erklärte sich bereit, Kasachstan bei der Wiederherstellung der staatlichen Ordnung zu helfen.

Macht-Tandem Tokajew-Nasarbajew funktionierte nicht

Nach Meinung des kasachischen Politologen Viktor Kowtunowski richtet sich der Protest insbesondere gegen den früheren Präsidenten und Sicherheitschef Nursultan Nasarbajew. Dies drücke sich aus in der Parole „Schal ket!“ (Der Alte muss weg). Die Gesellschaft sei müde von der 30-jährigen Herrschaft von Nasarbajew und habe genug von Armut und Ungerechtigkeit.

Bisher hatten sich Präsident Tokajew und der ehemalige Präsident Nasarbajew – als Leiter des Sicherheitsrates – die Macht in Kasachstan geteilt.

Der Plan einer geordneten Machtübergabe von Nasarbajew an Tokajew habe nicht geklappt, sagte der Politologe gegenüber der Nesawisimaja Gaseta. Dass die Sicherheitskräfte – sollte der Befehl erteilt werden – auf Demonstranten schießen, hält der Politologe für unwahrscheinlich.

Russischer GUS-Experte: „Teile der Macht sind mitverantwortlich“

Die Proteste in Kasachstan begannen am 2. Januar in der westkasachischen Stadt Schanaosen. Auslöser war die Verdoppelung des Preises für einen Liter Flüssiggas von 60 Tenge auf 120 Tenge (24 Cent). In der Stadt Schanaosen war es bereits im Dezember 2011 zu einem Aufstand von entlassenen Ölarbeitern gekommen, bei dem es auch Tote gab.

Der Leiter des russischen Duma-Komitees für Fragen der Gemeinschaft unabhängiger Staaten, Leonid Kalaschnikow, bezeichnete die von der kasachischen Regierung verfügte Preiserhöhung als „Fehler der Regierung“. Die Bevölkerung von Kasachstan leide bereits an erhöhter Inflation. Wer die Proteste in Kasachstan finanziere, wisse nur der kasachische Geheimdienst. Aber bei den meisten Revolutionen der letzten Jahrzehnte hätten sich „immer London und New York eingemischt.“

Der stellvertretende Leiter des russischen Duma-Komitees für Fragen der Gemeinschaft unabhängiger Staaten, Konstantin Satulin, erklärte gegenüber Radio Echo Moskau am frühen Mittwochabend, Russland werde sich nur auf Wunsch der kasachischen Regierung in den Konflikt einmischen. Bisher sehe er noch keinen Grund. Satulin erklärte, die treibende Kraft der Unruhen in Kasachstan seien „junge Leute, die im Internet unterwegs sind“. Satulin erklärte, „Teile der kasachischen Macht“ seien mit verantwortlich, dass es zu den Protesten kam.

Eskalationsmuster nach Kiewer Vorbild?

Bei den Protesten in Kasachstan gibt es Parallelen zum Maidan in Kiew. Erst nachdem Polizisten dort am 30. November 2013 hart gegen eine Gruppe von Studenten vorgegangen waren, war es zu einer Massendemonstration von 100.000 Menschen für die Assoziierung der Ukraine mit der EU gekommen. Später meinten Beobachter aus der Ukraine, der Polizeieinsatz gegen die Studenten sei eine von einzelnen Personen in der damaligen ukrainischen Regierung inszenierte Provokation gewesen, mit dem Ziel, Massenproteste für die EU-Assoziierung zu entfachen.

Nach Meinung der Moskauer Nesawisimaja Gaseta spielt der ehemalige kasachische Minister Muchtar Abljasow eine Schlüsselrolle bei den Unruhen in Kasachstan. Abljasow koordiniere die Proteste in Kasachstan von Kiew aus. Über Facebook rufe er seine Anhänger zu „koordinierter Aktion“ auf. Die Kontakt-Telefonnummern des Ex-Ministers hätten alle eine ukrainische Vorwahl.

Die Moskauer Nesawisimaja Gaseta schrieb, „die Tatsache, dass sich der Protest innerhalb von zwei Tagen auf das ganze Land ausdehnte, legt den Gedanken nahe, dass es ein Organisations-Zentrum gibt.“

Für die Falken in London, Washington und Berlin kommen die Unruhen in Kasachstan gerade zur rechten Zeit. Russland kommen die Unruhen an seiner Südflanke, unmittelbar vor den Gesprächen über Sicherheitsgarantien der Nato, höchst ungelegen.

veröffentlicht in: Nachdenkseiten

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