16. July 2009

Das Morden hört nicht auf

Menschenrechtler und kritische Bürger in Russland trauern um ein weiteres Opfer. In Grosny war die bekannte Menschenrechtlerin, die Russin Natalja Estemirowa, vor ihrem Haus entführt worden. Am frühen Abend wurde ihre Leiche in der Nachbarrepublik Inguschetien in einem Wald gefunden, wie ein Vertreter der Innenbehörde Inguschetiens mitteilte. Vermutlich wurde Estemirowa, wie auch andere Menschenrechtler vor ihr, Opfer einer Todesschwadron.

Wie Augenzeugen gegenüber Mitarbeitern der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial berichteten, wurde Estemirowa am Mittwochmorgen nicht weit von ihrem Haus festgehalten und in einen weißen Lada gezerrt. Estemirowa, die bis 1998 in Grosny als Lehrerin gearbeitet hatte, war eine der bekanntesten Menschenrechtlerinnen in Tschetschenien. Sie leitete das Büro der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial in Grosny, der Hauptstadt Tschetscheniens; ihr Thema waren Entführungen sowie Gewaltmethoden gegen die Familien von tschetschenischen Separatisten, deren Häuser in letzter Zeit immer häufiger von Sicherheitskräften abgebrannt werden. Im zweiten Tschetschenienkrieg, der von 1999 bis 2003 dauerte, photographierte Estemirowa die Opfer von Kriegsgräueln, wie dem Raketen-Beschuss des Marktes von Grosny, bei dem 118 Menschen getötet wurden. Nach dem Mord an der Tschetschenien-Reporterin Anna Politkowskaja wurde Estemirowa zu einer auch international gehörten Stimme der russischen Menschenrechts-Bewegung. 2005 wurde sie vom Europäischen Parlament mit der Robert-Schumann-Medaille ausgezeichnet.

Die Morde in Russland, die mit dem Tschetschenien-Konflikt zusammenhängen, reißen nicht ab. Ende Juni war der Präsident der tschetschenischen Nachbarrepublik Inguschetien, Junus-Bek Jewkurow, in seinem gepanzerten Mercedes durch eine Autobombe schwer verletzt worden. Jewkurow hatte sich bemüht, die Willkür-Aktionen der staatlichen Sicherheitsstrukturen einzudämmen und durch Gespräche mit den Menschen in den Dörfern die Blutrache zurückzudrängen. Der Kreml hatte zwar Ende April die besonderen Sicherheitsmaßnahmen im Rahmen des Anti-Terror-Kampfes in Tschetschenien offiziell für beendet erklärt, seitdem vergeht aber keine Woche ohne dass es nicht zu kleineren Scharmützeln kommt. Der islamistische Untergrund verfügt heute in den Teilrepubliken Tschetschenien, Dagestan und Inguschetien über ein stabiles Netz. Ein unruhiger Nordkaukasus ist eigentlich das Letzte, was sich Russland in Zeiten der Finanzkrise leisten kann.

Ulrich Heyden, Moskau

"Südkurier"

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