Der alte Feind wird inzwischen bewundert
Mit Schuldgefühlen ob der eigenen unrühmlichen Geschichte trifft man als Deutscher bei den meisten Russen auf Unverständnis.
Es gibt immer wieder Momente, an denen man als Deutscher in Russland an die eigene, unrühmliche Geschichte erinnert wird. Und nicht immer weiß man da, wie man sich am besten verhalten soll.
So war es auch, als ich inmitten eines kilometerlangen Zuges von Schaulustigen vom Moskauer Weltkriegs-Gedenkkomplex „Verneigungshügel“ zum Kiewer Bahnhof unterwegs war. Es war der Tag des Sieges über Hitler-Deutschland – der in Russland natürlich ein arbeitsfreier Feiertag ist.
Die Stimmung war aufgekratzt wie immer an diesem Tag. Auf dem Verneigungshügel hatten sich Zehntausende das Feuerwerk angeguckt. Junge Männer hatten Sprechchöre gerufen, „Spasibo dedu sa pobedu!“, Danke Großvater für den Sieg!, aber ansonsten wollten die Leute einfach nur flanieren und die Kinder wollten Süßigkeiten.
Nach rund vier Kilometern, wir hatten schon zwei aus Sicherheitsgründen gesperrte U-Bahn-Stationen passiert, fragte ich kurz vor dem Kiewer Bahnhof einen jungen Mann, „ob die uns jetzt wohl in die U-Bahn reinlassen?“ „Glaub schon“, meinte er – und schon kam die Gegenfrage: „Woher kommen Sie?“ „Aus Hamburg.“ Der Jugendliche, vielleicht 18 Jahre alt, verstand meine Antwort nicht und so sagte ich scherzhaft, „ich bin ein Feind“. Das russische Wort „wrag“ verstand er sofort, aber wieso Feind? Meine Antwort: „Ich komme aus Deutschland.“ Ich fürchtete schon, umstehende Jugendliche würden sich einmischen, doch mein Gesprächspartner konterte überraschend locker: „Naja, dafür sind wir jetzt in der Endrunde.“ Ich verstand nur Bahnhof – und das sah man mir an. Ich wurde aufgeklärt. Es ging natürlich um Eishockey.
Irgendwie fand ich das alles merkwürdig. Einen ganzen Tag lang feiern die Russen mit Militärparaden, Konzerten und Feuerwerken den Sieg über das verhasste Hitler-Deutschland. Nur – mit Deutschland hat das alles gar nichts mehr zu tun. Das Deutschland von heute bewundern die Russen – wegen seiner zuverlässigen Autos, den Fußballern und wegen der „deutschen Ordnung“.
Nur über das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg gehen in Russland und Deutschland die Vorstellungen naturgemäß noch immer deutlich auseinander. Am 9. Mai – dem Siegestag – und am 22. Juni – dem Tag des Überfalls auf die Sowjetunion – laufen in Russland zwar den ganzen Tag über Kriegsfilme im Fernsehen. Deshalb kennen die meisten Russen die deutschen Worte für Waffentypen, Dienstgrade und Befehle nahezu auswendig. Doch über die Gräuel gegen Millionen Juden in den besetzten Gebieten, die Beteiligung der Wehrmacht daran und das Schicksal der sowjetischen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen wissen die Russen nur wenig. In den sowjetischen Kriegsfilmen geht es meist um heldenhafte Rotarmisten und böse deutsche Generäle.
Und eigentlich trage das deutsche Volk keine Schuld, hört man immer wieder im persönlichen Gespräch mit Russen. Die Deutschen seien ja gezwungen gewesen, die Anweisungen des Diktators Hitler zu befolgen. Dass die NSDAP 1932 in freien Wahlen siegte, ist bei den meisten Russen unbekannt.
Über all das konnte ich mich in dem Gedränge vor dem Kiewer Bahnhof natürlich nicht unterhalten. Die Polizei ließ uns dann tatsächlich in die U-Bahn und für die feiernden Russen war es ein gelungener Tag. Und ich freute mich mal wieder darüber, das Gedränge in der Menschenmenge ohne Kratzer überstanden zu haben.
veröffentlicht in: Sächsische Zeitung