Der dünne Boden der Normalität
Juden in Moskau atmen heute freier als früher, sehen aber auch Grund zur Sorge.
250 000 Juden leben offiziell in Russland. Sie heißen Abramowitsch, Beresowskij oder auch Chodorkowskij. Weil die meisten allerdings weniger exponiert sind und bei Volkszählungen ihre Nationalität gar nicht angeben, geht die Föderation jüdischer Gemeinschaften (FEOR) davon aus, dass die Zahl der Juden in Wirklichkeit viermal so hoch ist und sich allein in Moskau auf eine halbe Million beläuft. Die Diskriminierung hat nachgelassen. Das Kulturleben ist reich, der Draht zum Kreml kurz. Doch die Besorgnis der jüdischen Gemeinde über rechtsradikale Tendenzen hält an.
Vor dem jüdischen Gemeindezentrum Marjina Roschtscha herrscht reger Betrieb. Gläubige wollen zum Gebet, Familienangehörige begrüßen sich auf dem Weg zu einer Jubiläumsfeier. Männer mit Sporttaschen sind auf dem Weg zum Trainingssaal. Das imposante sechsstöckige Gebäude mit Synagoge, Bibliothek, Restaurant und Sportzentrum wurde an Stelle einer 1993 abgebrannten Holzsynagoge gebaut.
Am Eingang geht es zu wie auf einem Flughafen. Mitarbeiter eines privaten russischen Wachdienstes kontrollieren Besucher-Taschen in einer Röntgenbox. Alle Neuankömmlinge müssen durch eine Sicherheits-Schleuse. Die Besucher des Zentrums nehmen’s gelassen. Am 11. Januar 2006 wollte der junge Rechtsradikale Alexander Kopzew in das Gemeindezentrum eindringen. Als er die Polizeistreife davor sah, zog er weiter ins Stadtzentrum. In der Synagoge an der Bolschaja-Bronnaja-Straße gelang ihm der Zutritt, obwohl er ein großes Jagdmesser dabei hatte. Mit „Heil-Hitler“-Rufen lief er durch die Gänge und verletzte neun Gläubige zum Teil lebensgefährlich.
Mendel Sack, ein junger Religionslehrer mit rotblondem Bart, der an einer jüdischen Jungenschule in der Nähe des Gemeindezentrums arbeitet, denkt nicht an Auswanderung. „Wir versuchen so weiterzuleben wie vorher.“ Der 25-Jährige fühlt sich Russland tief verbunden. „Ich liebe Israel und bin russischer Patriot. Das ist kein Widerspruch.“ In Russland gebe es heute viele jüdische Geschäftsleute und „relativ viel Freiheit“. Dass zuletzt Tausende Georgier ausgewiesen wurden, ist nach Sacks Meinung kein ethnisches Problem. Dahinter stehe ein „politischer Konflikt zwischen zwei Staaten”. Solange Russland mit Amerika und Israel befreundet sei, drohe den Juden in Russland keine Gefahr. „Aber“, fügt der junge Mann hinzu, „das kann sich ändern. In Russland ist alles möglich.“
An bestimmte Einschränkungen mussten sich die Juden in Moskau gewöhnen. Anja Lewina, Sekretärin der jüdischen Studentenorganisation „Gelel“, meidet gewisse Metro-Stationen, wo sie schon öfter rechtsradikale Jugendliche gesehen hat. Nichtslawischen Studenten an der Moskauer Staatlichen Universität, berichtet die 24-Jährige, wird von ihren Lehrern geraten, an Tagen wie dem Hitler-Geburtstag oder dem „Tag der nationalen Einheit“ lieber zu Hause zu bleiben. Obwohl in Russland der militärische Sieg über Hitler-Deutschland im kollektiven Gedächtnis einen wichtigen Platz einnimmt, würden die Ursachen für Faschismus kaum thematisiert. Auch das Wissen um den Holocaust sei nach wie vor sehr gering, sagt Ilja Altmann, Vorsitzender des Moskauer Holocaust-Zentrums. Der Völkermord an den Juden werde an russischen Schulen in 20 Minuten abgehandelt. Aus der Vernichtung von Millionen Juden habe die russische Gesellschaft keine Lehren gezogen. Als es jüngst in den Medien hieß, unter den Georgiern gäbe es besonders viele kriminelle Elemente, fühlte sich Altmann an das Deutschland von 1933 erinnert.
Ein „gefährliches Symptom“ ist für den Leiter des Holocaust-Zentrums der „Russische Marsch“. 3 000 Rechtsradikale zogen im November 2005 mit Hitler-Gruß und ausländerfeindlichen Parolen durch die Moskauer Innenstadt. Im November 2006 wurde der Marsch verboten, eine Kundgebung fand trotzdem statt, organisiert von der „Bewegung gegen illegale Immigration“ (DPNI). In einem großen Teil der russischen Gesellschaft und insbesondere in der Jugend gebe es, so Altmann, „den Wunsch, lautstark auf sich aufmerksam zu machen“. Das Problem sei jedoch nicht größer als beispielsweise in Ostdeutschland.
Das russische Volk habe „keinen Hang zum Extremismus“, meint Timur Kirejew, Sprecher der Föderation jüdischer Gemeinschaften, des Interessenverbandes der Juden in Russland. Die Rechtsradikalen versuchten jedoch, den Feiertag der nationalen Einheit für ihre Zwecke zu missbrauchen. Dabei sei es nach dem Ende des Kommunismus, der vieles zerstört habe, grundsätzlich gut, sich wieder auf Traditionen zu besinnen. Die russische Kultur sei von allen hier lebenden Völkern mitgeprägt worden, auch den Juden.
Noch, so Kirejew, sei der Antisemitismus lebendig. Doch die Lage habe sich sehr verbessert. Wenn Berl Lasar, der Oberrabbiner Russlands, in die USA fahre, dann werbe er dort dafür, Russland endlich als ein normales Land anzuerkennen, in dem Juden heute wieder frei leben könnten, erzählt Kirejew, der auch Lasars Sprecher ist.
Kirejew bezeichnet Israel als „unsere geistige Stütze“. Doch Unterstützung im Alltag leisteten vor allem Hunderte von jüdischen Unternehmern und Politikern in Russland: „Sie helfen bei der Regelung von organisatorischen und finanziellen Fragen.“ Vorsitzender des FEOR-Beirats ist kein Geringerer als Roman Abramowitsch.
Ulrich Heyden, Moskauer Deutsche Zeitung