Der Krieg ist für ewig in meinem Kopf
Von Ulrich Heyden, SZ-Korrespondent in Moskau
Seit 66 Jahren lebt der russische Kriegsveteran, Iwan Nikulin mit einer Kugel im Kopf. Eine Schwerbehinderung wird ihm aber nicht attestiert.
Iwan Iwanowitsch Nikulin hat als 18-Jähriger den Zweiten Weltkrieg mitgemacht. Eine schwere Kopfverwundung hat er damals davongetragen, trotzdem ist der heute 86-Jährige noch rüstig. Er geht selbst einkaufen, macht zu Hause sauber und deckt den Tisch, wenn Gäste kommen, wie jüngst am 9.Mai, dem russischen Siegestag. Bei solchen Anlässen erzählt Iwan Nikulin dann seine unglaubliche Geschichte.
Das Schicksal ereilte den jungen Soldaten im September 1944. Zusammen mit 17 Kameraden der sowjetischen Militäraufklärung stürmte Nikulin einen Stab der Hitler-Wehrmacht in Warschau. „Das war meine letzte und sehr schwierige Aufgabe“, erinnert sich der Rentner gegenüber dem Blatt „Komsomolskaja Prawda“. Nikulin und seine Leute töteten zwei Generäle der Hitler-Wehrmacht und fühlten sich schon als Sieger, doch einen dritten General der Wehrmacht bemerkten sie nicht.
Pistole an die Schläfe
„Bis heute kann ich nicht verstehen, warum ich ihn übersehen habe,“ sagt Nikulin. Er erinnert sich nur noch, wie der Deutsche ihm seine Pistole an die Schläfe setzte. „Alles wurde dunkel. Ich flog in einen leeren Raum. Es war kühl, ruhig und leicht. In diesem Moment wollte ich nicht dorthin zurück, wo der Krieg war.“
Die Augen öffnete Nikulin erst zwanzig Tage später, in einem Krankenhaus in Moskau. Eine Krankenschwester erzählte ihm, seine Kameraden hätten ihn aus dem Stab der Wehrmacht geschleift. Die Ärzte wollten den Schwerverletzten erst operieren, sahen dann aber davon ab, weil ihnen der Eingriff zu gefährlich erschien. Nicht nur das war merkwürdig. Die Militärs hatten den Eltern bereits eine Todesnachricht geschickt, wie sich bald herausstellte.
Als der junge Soldat nach einer Genesungsphase bei seinen Eltern im fernöstlichen Tschita eintraf, wollten sie ihn zunächst nicht als ihren Sohn wiedererkennen. „Unser Sohn ist gestorben. Hau ab!“ sollen sie gerufen haben. Doch dann schmolz das Eis. Eltern und Sohn lagen sich in den Armen und weinten. Die Eltern waren besorgt wegen der Kopfverletzung von Iwan Iwanowitsch. Sie hatte zu einer teilweisen Lähmung der linken Hand und des Beines geführt.
Trotz der schweren Verwundung wurde Nikulin nur als Schwerbehinderter zweiten Grades eingestuft. Eine Zeit lang habe er seine Verwundung sogar vergessen, berichtet der Veteran. Doch in letzter Zeit machten ihm ein pochender Schmerz im Kopf und die Lähmungsprobleme mit Arm und Bein wieder zu schaffen. Eine medizinische Kommission verweigerte eine gründliche Untersuchung. Die Ärzte erklärten, „ein Mensch mit einer solchen Verwundung kann nicht leben“. Nikulin antwortete: „Aber ich bin ein Mensch und ich lebe.“
Iwan Iwanowitsch gab nicht auf. Er lief von einem Arzt zum nächsten, wartete lange vor den Beamtenzimmern und hatte schließlich Erfolg. Ein Professor der staatlichen medizinischen Akademie von Tschita ordnete an, den störrischen Rentner zu untersuchen. Eine Röntgenaufnahme brachte dann die Wahrheit an den Tag. Deutlich ist im Gehirn des Veteranen die Pistolenkugel zu sehen.
Dass jemand mit einer Kugel im Kopf lebe, sei möglich, aber sehr selten, so die gewundene Erklärung der Ärzte. Wenn die Kugel aus einem größeren Abstand abgeschossen worden wäre, hätte sie den Kopf von Iwan Nikulin, glatt durchbohrt, so die Experten. Nun endlich wurde dem Veteran die volle Schwerbehinderung anerkannt. Dem alten Mann hat der Kampf um seine Anerkennung als vollständig Schwerbehinderter ziemlich zu schaffen gemacht. „Der Krieg ist auf ewig in meinem Kopf, im wahrsten Sinne des Wortes“, erklärte der Veteran. Aber es sei ebenso schmerzhaft, wenn man in Friedenszeiten nachweisen müsse, „dass du gekämpft und überlebt hast, ungeachtet der Kugel im Kopf“.
Im Internetblog der „Komsomolskaja Prawda“ führte der Bericht über Nikulin zu erregten Debatten über den Zustand des russischen Gesundheitssystems, in dem sich offenbar raffgierige Beamte schadlos halten, während Schwerbehinderte jedes Jahr neu um die Anerkennung ihrer Behinderungen kämpfen müssen. Viele Dokumente der Veteranen seien verloren gegangen und nun könnten die Veteranen nicht nachweisen, dass die Verwundungen aus dem Krieg stammten, berichteten mehrere Leser. Der User „Gost“ berichtet entrüstet, dass man seiner Mutter den Grad der Schwerbehinderung heruntergestuft habe. „Wahrscheinlich gibt es zu wenig Geld für die Gehälter der Beamten, so hat man sich entschlossen, die Schwerbehinderten herunterzustufen. Saukerle!“, schimpft „Gost“. Der User „Georgi“ beschwert sich, dass seine Frau die Herunterstufung als Schwerbehinderte nur durch die Zahlung von Schmiergeld verhindern konnte. Nach der offiziellen russischen Statistik leben in Russland heute noch 474000 Kriegsveteranen. An jedem 9.Mai, dem Tag des Sieges über die Deutschen, werden sie als Helden gefeiert. Jedes Jahr im Mai zeigt sich der Kreml äußerst großzügig. Dieses Mal verkündete Ministerpräsident Wladimir Putin, aufgrund außerordentlicher staatlicher Anstrengungen, sei es nun gelungen, allen Kriegsveteranen, die noch keine eigene Wohnung haben, mit eigenem Wohnraum zu versorgen.
Wenig Hilfe für Veteranen
Doch nach einem Bericht der Kreml-kritischen „Nowaja Gazeta“ gingen in Wirklichkeit wieder viele Bedürftige leer aus oder bekamen Wohnungen am Stadtrand oder in oberen Etagen, in Häusern, wo es keinen Lift gibt.
Wegen einer derartigen Wohnungszuteilung beschwerte sich die 88-jährige Aleksandra Bulkina, die die Blockade von Leningrad überlebte, zusammen mit anderen Veteranen bei der Stadtverwaltung von St. Petersburg. Man hatte ihr eine Wohnung in der Mebelnaja-Straße, in einem Außenbezirk im Nordwesten der Stadt, zugeteilt. Bis zum nächsten Lebensmittelladen muss die alte Dame drei Kilometer mit dem Bus fahren. Bis zur Poliklinik sind es fünf Bus-Stationen. Auf den Brief antwortete die Stadtverwaltung nüchtern, in den nächsten Monaten seien keine weiteren Baumaßnahmen vorgesehen.
"Sächsische Zeitung"