27. April 2010

Der Lockvogel leistete ganze Arbeit

Geheimdienstarbeit. Ein Moskauer Gelegenheitsmodel lockte bekannte Kreml-Kritiker in eine Wohnung, wo sie mit versteckten Kameras beim Sex abgefilmt wurden.

ULRICH HEYDEN MOSKAU (SN). Es war immer die gleiche Wohnung und immer das gleiche Model: Katja Gerasimowa. Dem Gelegenheitsmodel, Anfang 20, mit dem Spitznamen Mu-Mu, gingen gleich mehrere bekannte Mitglieder der liberalen und nationalistischen Moskauer Opposition ins Netz.

In einer mit versteckten Kameras gespickten Wohnung wurden sie dann beim Sex und Kokain-Schnüffeln gefilmt. Auf den Videos, die jetzt auf der Website kanal911.com veröffentlicht wurden, sind der liberale Satiriker Viktor Schenderowitsch, der Nationalbolschewist und Schriftsteller Eduard Limonow sowie der frühere Chef der rechtsradikalen „Bewegung gegen illegale Immigration“, Aleksandr Potkin, zu sehen. Auch den Chefredakteur des vom Springer Verlag herausgegebenen Wochenmagazins „Newsweek Russia“, Michail Fishmann, fing die brünette Mu-Mu ein. In der Wohnung mit den versteckten Kameras wurde Fishmann in Unterhose beim Schnüffeln eines weißen Pulvers abgefilmt.
Seit Ende März tauchen nun immer wieder neue Videos im Internet auf und sorgen dort für Auseinandersetzungen. Ilja Jaschin, der auch eine Nacht mit einer jungen Frau in besagter Wohnung verbrachte, erwartet nun ebenfalls ein Video im Internet. Am Montag stellte der bekannte liberale Straßenaktivist Anzeige bei der Moskauer Staatsanwaltschaft. Nach Meinung von Jaschin stecken der stellvertretende Chef der Kreml-Administration, Wladislaw Surkow, und der ehemalige Chef der kremlnahen Jugendorganisation Naschi (Die Unseren), Wasili Jakemenko, hinter dem Videokomplott.
Die kompromittierenden Filme, auf denen auch Schmiergeldzahlungen an Verkehrspolizisten zu sehen sind, wurden teilweise schon 2008 aufgenommen. Die Website mit den Filmen wird von einem „Gesellschaftlichen Komitee zum Schutz von Moral, Gesetz und bürgerlichem Einverständnis“ betrieben. Offenbar soll mit den Filmchen Stimmung gegen die kleine liberale Oppositionsszene um den Schachweltmeister Garri Kasparow gemacht werden, die seit Anfang März im Internet Unterschriften für den Rücktritt von Wladimir Putin sammelt. Bisher haben 39.000 Menschen unterschrieben. Einer der Unterzeichnenden war auch Video-Opfer Viktor Schenderowitsch. Das ganze Vorgehen erinnert an die Methoden des KGB und anderer osteuropäischer Geheimdienste.
Der Satiriker Viktor Schenderowitsch sagte im Radio, hinter dem Film stehe die Staatsmacht. Der Satiriker, der in einem der Filmchen nackt auf einem Bett zu sehen ist, gab sich zunächst noch locker. Die Hintermänner ortete Schenderowitsch beim Geheimdienst und sprach sie denn auch gleich direkt an. „Genossen Tschekisten. Das ist eine Diskriminierung gegen das Alter.“ Den jungen Oppositionellen habe man zwei junge Mädchen „für umsonst“ gegeben, ihm, dem über 50-Jährigen „nur eines“.

Das Model ist verschwunden

Im Übrigen sei es mit Katja, dem jungen Lockvogel, „langweilig“ gewesen. Inzwischen ist Schenderowitsch, der den Kreml wegen der Entlassung der kritischen Redaktion des Fernsehsenders NTW und der Inhaftierung von Jukos-Chef Michail Chodorkowski immer wieder direkt kritisiert hat, jedoch der Spaß vergangen. Am Sonntag stellte der Satiriker seinen Blog im Internet ein.
Die Freunde von Ilja Jaschin, der jetzt ebenfalls ein Video von sich erwartet, haben begonnen, zu recherchieren. Lockvogel Katja Gerasimowa (Mu-Mu) arbeitet angeblich für die Moskauer Firma „Orange Disco“. Die Mutter von Katja erklärte am Telefon, dass ihre Tochter zum Studium ins Ausland gefahren sei. Sie komme nicht vor einem halben Jahr zurück.

"Salzburger Nachrichten"

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