8. February 2010

Der Machtkampf überdauert die Wahl

Ukraine. Gegnerische Lager werfen einander Wahlfälschung vor. Erste Prognosen: Wiktor Janukowitsch dürfte gewonnen haben.

ulrich heyden kiew (SN). Bei der Präsidentenwahl in der Ukraine warnte Regierungschefin Julia Timoschenko am Sonntagabend nach Schließung der Wahllokale vor voreiligen Schlüssen über das Ergebnis. „Wir werden um jede Stimme kämpfen“, sagte Timoschenko. Nach gleichlautenden Prognosen verschiedener Meinungsforschungsinstitute dürfte der prorussische Oppositionsführer Viktor Janukowitsch die Abstimmung gewonnen haben.

Timoschenko betonte aber, es sei unmöglich, über die Ergebnisse zu reden, solange keine endgültigen Zahlen vorlägen. Sie erinnerte an die Präsidentenwahl 2004, als Janukowitsch sich bereits als Sieger gefühlt hatte, dann aber wegen eines Skandals um Wahlfälschungen die Wiederholung der Abstimmung verlor. Timoschenko warf ihrem Rivalen erneut Manipulationsversuche vor.
Wahlbeobachter sprachen aber von einem ordnungsgemäßen Verlauf. Timoschenko erhielt nach einer Prognose des Fernsehsenders ICTV 45,2 Prozent der Stimmen und damit gut vier Prozentpunkte weniger als Janukowitsch, der auf 49,8 Prozent kam.
Die 49-jährige Julia Timoschenko hatte bei der ersten Wahlrunde im Jänner 25 Prozent der Stimmen bekommen, ihr Gegenkandidat Wiktor Janukowitsch 35 Prozent. Sergej Tigipko, der noch im Jahr 2004 den Wahlkampfstab von Janukowitsch geleitet hatte, war auf Platz drei gelandet.
Vor der Stichwahl wollte Tigipko keine Wahlempfehlung aussprechen, obwohl Timoschenko ihm den Posten des Ministerpräsidenten angeboten hatte. Offenbar wartet der Ex-Banker auf die Stunde, wenn nicht nur Timoschenko, sondern auch Janukowitsch ihr Vertrauen in der Bevölkerung verspielt haben.Bürger sind enttäuscht Die Menschen in der Ukraine sind zutiefst enttäuscht von den Politikern. Statt spürbarer Verbesserungen erlebten sie unter Präsident Juschtschenko, dem Führer der Orangenen Revolution, aber auch seinen Gegenspielern Intrigen, Schaukämpfe und eine sich immer weiter ausbreitende Korruption.
Die zentrale Wahlkommission erklärte am Sonntag, die Wahl sei ohne Zwischenfälle verlaufen. Stimmt nicht ganz: In Kiew ließen vier Aktivistinnen der Frauenorganisation Femina in dem Wahllokal, in dem Janukowitsch wählen wollte, ihre Hüllen fallen und riefen: „Es reicht, das Land zu vergewaltigen!“
Ein anderer Vorfall wiegt schwerer. Im Bezirk Iwano-Frankowsk soll ein Mitglied der Timoschenko-Partei „Vaterland“ in der Nacht zum Wahltag in einem Wahllokal ermordet worden sein. Dies behauptete der Leiter des Wahlkampfstabs von Timoschenko. Julia Timoschenko erklärte, wenn es zu Wahlfälschungen komme, werde sie zu Straßenprotesten aufrufen.
Doch eine Massenbewegung wie 2004 während der orangenen Revolution, die eben wegen Wahlfälschungen entstand, ist diesmal nicht zu erwarten. Zu sehr haben die Orangenen Revolutionäre die Hoffnungen der einfachen Menschen auf ein Leben ohne Korruption enttäuscht.
Die kommenden Wochen werden spannend. Solang kein offizielles Wahlergebnis feststeht, wird der amtierende Präsident Juschtschenko versuchen, die Zügel in der Hand zu halten. Juschtschenko, der im ersten Wahlgang scheiterte, sagte, viele Ukrainer würden sich noch für „ihre Stimmabgabe“ schämen.

"Salzburger Nachrichten"

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