Nun, wo Wolodymyr Selenski neuer Präsident ist, wurden der Öffentlichkeit in Kiew plötzlich die Ergebnisse einer sehr aufwendigen Ermittlung präsentiert.
Bei der Präsentation der ukrainischen Polizei wurde das abgehörte Telefongespräch der Verdächtigen Julia Kosmenko vorgespielt. Die Verdächtige, die von Beruf Kinder-Chirurgin ist, soll die Bombe unter dem Wagen von Scheremet platziert haben. Sie sagt in einem Telefongespräch, man müsse „die Buchweizen-Anbauer“ (eine Anspielung auf die Ukrainer) „in Bewegung bringen”. Auf Kiew müssten „fünf, sechs Grad-Raketen niedergehen“. Um die ukrainische Hauptstadt „tut es mir absolut nicht leid“. Gut wäre es auch, ein „sakrales Opfer“ zu finden, etwa „eine Mutter mit Kind“.
Die abgehörten Äußerungen zeigen nach Meinung der Ermittler, dass die Beschuldigten Kiew mit Terrorakten destabilisieren wollten. Wer der Auftraggeber der Festgenommenen ist, sagten die Ermittler nicht.
Das deutsche Fernsehen schweigt
Wenn die ukrainische Polizei in Kiew eine Pressekonferenz zu so einem brisanten Fall veranstaltet und auf dieser Pressekonferenz der ukrainische Innenminister Arsen Awakow und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski höchstpersönlich auftreten, müsste es da in den deutschen Medien nicht gründliche Berichte geben? Doch keins der großen Medien, die 2016 über den Mord an Scheremet noch ausführlich berichteten, informierten ihre Leser über die Verhaftung von fünf Tatverdächtigen aus dem Lager der ukrainischen Nationalisten, bis auf die FAZ und „die tageszeitung“.
Gibt es bei dieser Nachrichtenauswahl eine Logik? Ja! Nachrichten, welche die Notwendigkeit von Sanktionen gegen Russland unterstreichen, bringt man gerne. Nachrichten, die diese Notwendigkeit in Frage stellen, drückt man weg. So einfach ist das.
Hier die Belege: Ende Mai 2018 berichteten deutsche Medien mit großen Schlagzeilen, der kreml-kritische Journalist Arkadi Babtschenko, der aus Russland in die Ukraine übergesiedelt war, sei in Kiew ermordet worden. Kurze Zeit später stellte sich heraus, dass Babtschenko quicklebendig ist und der Mord eine Inszenierung des ukrainischen Geheimdienstes war, angeblich um Attentäter dingfest zu machen.
Der ukrainische Geheimdienst hatte sich komplett blamiert. Und diese Tatsache mussten die großen deutschen Medien eingestehen. Doch die Korrespondentin des Deutschlandfunks schaffte es im ARD-Presseclub, auch in dieser eindeutigen Situation die Ukraine als Opfer darzustellen. Adler sagte, „also meiner Ansicht nach hat sich der ukrainische Geheimdienst da völlig in die Spielregeln des russischen Geheimdienstes beziehungsweise auch des Kreml begeben und hat gedacht, diesen Krieg zu führen, so wie er in Russland geführt wird, hat mit den gleichen Waffen sozusagen zurückgeschlagen.“
Angebliche Repressalien gegen Scheremet in Russland
Zurück zum Fall Pawel Scheremet. Der war – ähnlich wie Babtschenko – kreml-kritisch und 2014 aus Russland in die Ukraine übergesiedelt. Die „Tagesschau“ hatte nach dem Mord an Scheremet angedeutet, dass er Opfer russischer Häscher wurde. „Der gebürtige Weißrusse war 2014 in die Ukraine gekommen. Zuvor hatte er in seiner Heimat und in Russland investigativ gearbeitet und dort Repressalien erfahren.“
Welche Repressalien das waren, sagt die „Tagesschau“ nicht. Es gab diese Repressalien nicht. Scheremet hat sich selbst außerhalb des russischen Konsenses gestellt, indem er behauptete, die „Annexion der Krim“ und die „Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine“ sei „ein blutiges Abenteuer der russischen Politik“. Deshalb bekam er keine Aufträge mehr von russischen Fernsehkanälen.
Als am 12. Dezember 2019 fünf Personen, die in der Ost-Ukraine gegen Separatisten gekämpft hatten, wegen des Verdachts auf die Beteiligung am Mord an Scheremet verhaftet wurden, schwieg die „Tagesschau“. Auch „Der Spiegel“ und die „Süddeutsche Zeitung“ schwiegen. Dabei hatten diese drei Medien noch ausführlich über die Ermordung von Scheremet berichtet (Tagesschau, Der Spiegel, Süddeutsche Zeitung).
Die Online-Ausgaben von ZDF, Die Welt und Die Zeit berichteten nur über die Verhaftung von fünf „Verdächtigen“. Über die politische Gesinnung der Verhafteten stand in diesen Meldungen kein Wort.
Andrei Antonenko – Rock-Musiker – Kaempfer und Hauptverdaechtiger im Mordfall Pawel Scheremet – Screenshot Youtube-Kanal Extra-News
Dabei hatte die ukrainische Polizei über den Hauptverdächtigen des Mordes an Scheremet, den Rockmusiker Andrej Antonenko von der Band Riffmaster, einen Bericht vorgelegt, in dem es heißt, “er war Anhänger ultranationalistischer Ideen, er kultivierte die arische Rasse, er teilte die Gesellschaft nach dem Prinzip der nationalen Zugehörigkeit ein, er bemühte sich, in der Gesellschaft Aufmerksamkeit für seine Ideen zu bekommen.”
Die Sprachregelung für Faschisten in der Ukraine hat ZDF-Moderator Claus Kleber bereits 2014 klargestellt und daran halten sich alle Medien. Kleber: „In der Ukraine gibt es diese Faschisten nicht – zumindest nicht an verantwortlicher Stelle in Kiew.“
Die Wahrheit nur für Auserwählte
Nur eine kleine Schicht von besonders Interessierten darf in Deutschland die Wahrheit über die Ukraine erfahren. Die taz berichtete korrekt unter der Überschrift „Spur führt nach rechts“. „Immer wieder waren die Mörder Scheremets im Umfeld russischer oder weißrussischer Dienste vermutet worden (…) Doch die mutmaßlichen Mörder sollen aus dem rechtsradikalen Milieu der ukrainischen Freiwilligenverbände kommen. Es seien, so Ewgenij Kowal, die Krankenschwester einer Fallschirmjäger-Einheit, Jana Dugar, die an der Kiewer Kinderklinik Ochmatdet tätige Kinderchirurgin und Kämpferin Julia Kusmenko, der Musiker und Freiwilligenkämpfer Andrej Antonenko und das Ehepaar Wladislaw und Inna Grischtschenko, ebenfalls Angehörige eines in der Ostukraine kämpfenden Freiwilligenverbandes.“
Die Kinder-Chirurgin Julia Kosmenko soll die Bombe unter dem Auto des Journalisten befestigt haben – Foto privat
Die FAZ schreibt, „die Festnahmen stellen die ukrainische Gesellschaft auf eine harte Probe. Nicht nur, weil alle fünf Verdächtigen im Krieg gegen die prorussischen Separatisten in der Ostukraine im Einsatz waren – und damit eigentlich großes Ansehen genießen. Noch unangenehmer ist, dass mindestens ein Täter aus dem rechtsradikalen Milieu der ukrainischen Freiwilligenverbände stammen soll.“
Warum gerade jetzt das Ermittlungsergebnis?
Die Ereignisse in Kiew rund um die Ermittlungen zum Scheremet-Mord sind einzigartig und deuten auf einen neuen Stil in der ukrainischen Politik hin. Es ist das erste Mal, dass ein Mordfall, für den bisher „von Moskau gesteuerte Täter“ verantwortlich gemacht wurden, nun ukrainischen Nationalisten angelastet wird. Und es ist das erste Mal seit dem Staatsstreich in der Ukraine, dass die ukrainische Polizei die Verfolgung im Fall eines Journalisten-Mordes als großes öffentliches Ereignis zelebriert.
Warum werden gerade jetzt die mutmaßlichen Täter im Mordfall Scheremet genannt? Die Anklage gegen die Nationalisten kommt zu einer Zeit, wo Präsident Selenski unter dem Druck der Nationalisten steht, die den Truppenabzug an der Grenze zu den abtrünnigen Gebieten im Osten des Landes aktiv sabotieren. Das juristische Vorgehen gegen die Nazi-Nationalisten ist ein Versuch der Macht in Kiew, Nationalisten und Rechtsradikalen Grenzen aufzuzeigen.
Auffällig ist allerdings, dass der ukrainische Innenminister Arsen Awakow nicht ausschließen will, dass es doch eine „russische Spur“ gibt. Der Innenminister tut so, als ob es möglich ist, dass ukrainische Nationalisten Befehle aus Moskau ausführen.
Dass die fünf Verdächtigen des Mordes an Scheremet überführt werden, ist noch unsicher. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den Mord an dem pro-russischen Journalisten Oles Busina, der im April 2015, unmittelbar nachdem sein Name auf der berüchtigten Website „Mirotworets“ auftauchte, erschossen wurde. Zwei Rechtsradikale wurde des Mordes verdächtigt. Sie saßen einige Zeit unter Hausarrest, der dann aber aufgehoben wurde.
Ukrainische Faschisten haben die Macht auf der Straße, Gerichte kuschen
Als Beweis dafür, dass es in der Ukraine kein faschistisches Problem gibt, wird von deutschen „Ukraine-Experten“ seit fünf Jahren immer die gleiche Geschichte erzählt: Faschisten in der Ukraine haben keine Wahlerfolge. Es gäbe diese Faschisten zwar, aber sie seien ohne Einfluss.
Doch die Wahrheit sieht anders aus. Auf den Straßen der Ukraine regiert der ultranationalistische Mob. In den ukrainischen Gerichten gibt man diesem Druck nach.
Ultranationalisten überfielen den kritischen Journalisten Ruslan Kotsaba. Ihm droht ein neues Verfahren wegen Landesverrats.
Ukrainische Ultranationalisten verhinderten im Dezember 2015 im Malinowski-Gericht von Odessa, dass Anti-Maidan-Aktivisten gegen Kaution freigelassen wurden. Sie zwangen die Richter im Gerichtssaal, ihren Rücktritt zu unterschreiben.
In Kiew belagerten Ultranationalisten am 20. Mai 2014 das Petscherski-Gericht und erzwangen die Freilassung des Maidan-Aktivisten Sergej Chodjak, der am 2. Mai 2014 in Odessa mit einer Pistole auf Anti-Maidan-Demonstranten und Polizisten schoss (Minute 8:20).
Im November 2016 erklärte der ukrainische Kultusminister Jewgeni Nischuk in einer Fernseh-Talkshow, bestimmte Gebiete in der Zentral- und Ost-Ukraine seien “genetisch unrein”. Gemeint waren die Gebiete mit einem hohen Anteil russischsprachiger Bevölkerung. Nach Protesten entschuldigte sich Nischuk. Er sei falsch verstanden worden.
Im Mai 2018 wurde der ukrainische Konsul in Hamburg, Wasil Maruschinez, vom Dienst suspendiert. Der Grund: Der ukrainische Video-Blogger Anatoli Schari hatte aufgedeckt, dass Maruschinez auf seiner Facebook-Seite erklärt hat, es sei „ehrenhaft“, ein Faschist zu sein.
Wasil Maruschinez – ehemaliger Konsul der Ukraine in Hamburg – Quelle: Soziale Medien
Wie die ukrainische Internetplattform Ukrainski Nowini am Dienstag berichtete, darf Maruschinez seinen Dienst jetzt wieder aufnehmen und weiter als Diplomat arbeiten. Das ukrainische Berufungsgericht sah in den Äußerungen des ehemaligen Konsuls keinen Verstoß gegen den Eid von Staatsbediensteten. Maruschinez bekommt eine Entschädigung in Höhe von 8.300 Euro.
Wer jedoch in der Ukraine „kommunistische Symbole“ zeigt, wird bestraft. Wie die ukrainische Internetplattform Strana.ua am Montag berichtete, hat das Ismailski-Gericht im Gebiet Odessa einen Mann auf Bewährung verurteilt, weil dieser am 9. Mai (der in der Ukraine von Regierungsgegnern als Siegestag gefeiert wird) an seinem Fahrrad eine Flagge mit rotem Stern, Hammer und Sichel und den Worten „Vaterländischer Krieg“ befestigt hatte und damit durch sein Dorf fuhr.
Es versteht sich von selbst, dass keines der großen deutschen Medien über die hier angeführten konkreten Fälle berichtet hat.
Titelbild: president.gov.ua/CC BY-SA-4.0
Ulrich Heyden
veröffentlich in: Nachdenkseiten