23. January 2012

Die Armen von Astrachan

Ljudmilla Gardejewa erinnert sich noch genau, als es vor zwei Jahren im Wohnheim der ehemaligen Rüstungsfabrik „Progress“ krachte. Ein Flügel des Hauses, mit insgesamt 25 Wohnungen, war wegen schlechter Wartung und unsachgemäßen Umbauarbeiten eingestürzt.

Fünf Menschen wurden unter den Trümmern begraben und konnten nur noch tot geborgen werden.
„Es war am 22. Juli um halb elf Uhr vormittags,“ erzählt die 57-jährige Frau, die heute mit 40 anderen aus dem Wohnheim Evakuierten in einem Flügel des „Städtischen Krankenhauses Nr. 2“ lebt.

„Die meisten Menschen waren auf der Arbeit. Dadurch wurden viele gerettet“, sagt die ehemalige Arbeiterin, die sich jetzt wie die meisten anderen Frauen als Putzfrau durchschlägt.
Zum Zeitpunkt des Unglücks befand sich Ljudmilla mit ihrer Tochter in einem anderen Flügel des Wohnheims, der unzerstört blieb. „Wir hörten ein Krachen, so als ob ein Laster eine Ladung Steine auskippt. Als meine Tochter aus dem Fenster guckte, war sie wie gelähmt. Wir rechneten damit, dass auch wir vom Einsturz bedroht sind.“ Ljudmilla spricht laut und aufgeregt. Wie die meisten anderen, die das Unglück überlebt haben ist sie von den Ereignissen immer noch traumatisiert.
Das Wohnheim der Progress-Maschinenfabrik liegt nördlich des Stadtzentrums in der Sawuschkina-Straße. Ende der 1960er Jahre war das vierstöckige Haus für junge Arbeiter gebaut worden, welche die Fabrik „Progress“, in der Fernseher und Ausrüstungen für das Militär gebaut wurden, aus den umliegenden Dörfern angeworben hatte. Doch die chaotischen 1990er Jahre, als die Fabrik faktisch nicht arbeitete, führten auch zur Verwahrlosung des Wohnheims. Niemand kümmerte sich um die Instandhaltung. Bis heute sind die Eigentumsverhältnisse unklar. Das Unternehmen schiebt die Verantwortung für das eingestürzte Wohnheim auf die Stadt, die Stadt sagt, das Unternehmen sei für die Schäden verantwortlich.
Das Beispiel der Armen von Astrachan ist nur eines von vielen: Arbeitslosigkeit und explodierende Preise lassen in Russland immer mehr Menschen unter die Armutsgrenze rutschen. Innerhalb der vergangenen zwölf Monate sei die Zahl der Menschen unter dem Existenzminimum um 2,3 Millionen auf 22,9 Millionen gestiegen. Dies seien 16,1 Prozent der Bevölkerung, so das Statistikamt in Moskau.
In Astrachan ist sie mit den Händen zu greifen. Bereits 1996 stürzten zehn Wohnungen des Heims ein, erzählen die ehemaligen Bewohner. Ein städtisches Architektur-Büro befand, dass das Wohnheim nicht mehr den Sicherheitsbestimmungen entspricht. Trotzdem wurden 2006 umfangreiche Umbauarbeiten vorgenommen. Wohnheim-Zimmer wurden in 25 Wohnungen umgewandelt. Doch der Zement, den man damals verwendete, enthielt mehr Sand als Zement, berichtet Ljudmilla. Und wegen der schlechten Wartung tropfte und leckte es überall. Das Dach des Wohnheims war nicht dicht, im Keller stand Wasser und die Abwasser-Rohre waren defekt.
Heute steht das Wohnheim in der Sawuschkina-Straße, in dem vor zwei Jahren noch 300 Menschen lebten, leer. Von der Stirn-Seite des vierstöckigen Hauses kann man direkt in die Überreste zerstörterWohnzimmer gucken. An einem unzerstörten Eingang liegt ein Kranz zum Gedenken an die Todesopfer, des Unglücks. Ein Polizist hält Wache und sorgt dafür, dass niemand das Haus betritt.
Die Menschen fordern Gerechtigkeit Für 40 aus dem Wohnheim Evakuierte hat man im Städtischen Krankenhaus Nr. 2. einen ganzen Flur freigemacht. Seit zwei Jahren leben dort jetzt pro Zimmer zwei bis drei Familien. Möglicherweise wolle die Stadt das Wohnheim rekonstruieren, meint Ljudmilla. „Aber wir wollen dort nicht mehr wohnen“, sagt sie in einem Ton, in dem man die Angst mithört. Ljudmilla und die anderen Evakuierten, die ich im Krankenhaus-Flur treffe, fordern, dass man ihnen endlich normale Wohnungen gibt. 20 Personen haben die Evakuierten als Verantwortliche für den Haus-Einsturz aufgelistet. Doch vor Gericht stehen nur zwei Personen, Vize-Bürgermeister Viktor Kusnezow und ein Jurist. Der Vize-Bürgermeister soll von dem baufälligen Zustand des Hauses gewusst aber nichts unternommen haben. Einer der Besitzer der Fabrik „Progress“, der Aktionär Waleri Prjachin – er hatte die Umbauarbeiten im Wohnheim veranlasst –, ist zur Fahndung ausgeschrieben.
Die in das Krankenhaus Evakuierten, die für ihre Forderungen auch schon auf die Straße gegangen sind, kritisieren auch, dass es vor Gericht bisher gar nicht um den Pfusch bei den Umbauarbeiten, sondern um Nebenfragen, wie die Wohnungsvergabe für das Wohnheim geht.
Und was sagt die Stadtverwaltung zu ihren Problemen? Der Bürgermeister von Astrachan hat im Fernsehen erklärt, dass die Evakuierten neue Wohnungen bekommen. Ein Teil der Evakuierten ist in „Kommunalkas“, den wegen ihrer Enge berüchtigten Gemein schaftswohnungen, untergekommen. „Aber uns hat man vergessen“, meint Ljudmilla. Man habe einen Brief an Präsident Medwedew geschrieben und an den Generalstaatsanwalt in Moskau. Aber aus Moskau habe man die Antwort erhalten, dass man den Fall an Astrachan übergeben hat. Dort würde die Entscheidung gefällt. Und das Unternehmen Progress, dass jetzt eine Aktiengesellschaft ist, hat den Evakuierten erklärt, dass sie sich ja eine Wohnung kaufen können. Aber wovon? Ihren Job bei dem Unternehmen Progress, dass sie einst anwarb, haben sie schon alle verloren. Jetzt schlagen sich die Frauen als Putzhilfen durch, für den Mindestlohn von 4330 Rubel (102 Euro). Die Männer machen Gelegenheitsjobs als Wachmänner.
In Astrachen prallen, wie in vielen russischen Städten, die Gegensätze aufeinander. Nicht weit von dem eingestürzten Wohnheim, wurde Anfang November das neue Musik-Theater der Stadt eröffnet. Der pompöse mehrgeschossige Bau sieht mit seinen Türmen und Erkern aus wie ein Märchenschloss und wirkt in dem heruntergekommen Plattenbau-Viertel fast unwirklich.
Es gibt noch viel anderes über das man in Astrachan nur staunen kann, etwa die vielen schönen, alten Gebäude, den Kreml, die Moscheen und die alten Kaufmannshäuser. Die Stadt im Wolga-Delta wurde im 13. Jahrhundert von Tataren gegründet. Die Altstadt ist geprägt von niedrigen Holzhäusern. Doch das Geld für die Instandhaltung fehlt: Viele Holzhäuser fallen buchstäblich in sich zusammen. „40 Prozent der Häuser in Astrachan sind baufällig“, sagt Stadträtin Swetlana Archarowa im Gespräch mit dieser Zeitung. Nachts ist nur die Innenstadt, wo sich die Duma – der Sitz des Regionalparlaments – sowie ein paar Banken und Boutiquen befinden, hell erleuchtet. Die Straßen außerhalb des Zentrums liegen im Dunkeln. Angesichts der mangelnden staatlichen Unterstützung flüchten sich die Bewohnerinnen in bittere Ironie: Das Villenviertel der Beamten und Geschäftsleute am Wolgaufer heißt im Volksmund Dolina Nischich – das Tal der Armen.

veröffentlicht in: Südkurier

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