14. January 2025

An die Front und zurück (Junge Welt)

»Volk und Armee sind eins«. Rekrutenwerbung per Plakat in Moskau (April 2023) - ITAR-TASS/IMAGO
Foto: »Volk und Armee sind eins«. Rekrutenwerbung per Plakat in Moskau (April 2023) - ITAR-TASS/IMAGO

Aus: Ausgabe vom 14.01.2025, Seite 3 / Schwerpunkt

Krieg in der Ukraine

Russische Soldaten berichten von ihren Kriegserfahrungen

Von Ulrich Heyden, Moskau

Russen sähen zwar wie Europäer aus, seien aber eigentlich gar keine Europäer, meinte Florence Gaub, damals stellvertretende Direktorin des Instituts der Europäischen Union für Sicherheitsstudien, im April 2022 in der ZDF-Talksendung »Markus Lanz«. Die Russen planten ihr Leben »nicht als Projekt, das individuell gestaltet wird«. Das Leben eines russischen Mannes könne »einfach recht früh mit dem Tod enden«. Die Behauptung dieser Expertin stand ganz im Geiste des Kalten Krieges, als Sowjetsoldaten in westdeutschen Medien als willenlose, graue Masse dargestellt wurden, die sich vom Regime verheizen ließen. Wer aber die russischen Soldaten sind, die heute an der Front kämpfen, erfährt man hierzulande nicht. Der Autor hat einige von ihnen in Moskau getroffen.

Gefallene sind kein Thema

Bis Juni 2023 sind nach offiziellen russischen Angaben fast 100.000 russische Soldaten gefallen. Neuere offizielle Zahlen gibt es nicht. Der Tod der Soldaten kommt im öffentlichen Leben in Russland kaum zur Sprache. Im Fernsehen ist der Krieg in der Ukraine – in Russland »Spezialoperation« genannt – zwar das dominierende Thema; aber nicht Tod und Verwundung stehen im Mittelpunkt der Berichterstattung, sondern Heldenmut und Ausdauer. Um Helden schart sich die russische Nation in einem Entscheidungskampf gegen die NATO-Expansion Richtung Osten, lautet der Tenor in den russischen Medien.

Im vergangenen Jahr wurden die gezeigten Videos dramatischer. Zu sehen sind tieffliegende russische Lenkwaffen über ukrainischen Städten, mit Helmkameras aufgenommene Kampfszenen von Stoßtrupps an der Front, man sieht Piloten mit verpixelten Gesichtern, die Raketen abschießen und Videoaufnahmen von Drohnen, die in ukrainische gepanzerte Fahrzeuge und Stellungen einschlagen.

Entlang der großen Straßen hängen überall Plakate, auf denen einzelne ordengeschmückte, und namentlich genannte Soldaten zu sehen sind. In der Moskauer U-Bahn zeigen Bildschirme die Beträge an, die für einen Einsatz im Gebiet der »Spezialoperation« gezahlt werden. In Moskau sind es mit allen Zuschlägen umgerechnet 4.400 Euro. In der Provinz ist es weniger. Zusätzlich gibt es für einen eroberten oder zerstörten ukrainischen Panzer einen Zuschlag von 500 Euro, die gleiche Summe für einen Quadratkilometer Territorium, der im Sturmangriff erobert wurde.

»Die Heimat verteidigen«

Sicher gibt es unter den russischen Soldaten, die einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterschreiben, solche, die aus Geldnot an die Front gehen. Aber der wichtigste Grund, warum ein Russe sein Leben an der Front riskiert, scheint der Patriotismus zu sein. Darauf setzen jedenfalls die Designer der Plakate des russischen Verteidigungsministeriums, die mit den Worten werben: »Reih dich bei den Unseren ein.«

Aleksej, der von Juli 2023 bis Juli 2024 in der Volksrepublik Lugansk, sieben Kilometer vor der Stadt Soledar, kämpfte, erzählt, warum er als Freiwilliger an die Front gegangen ist. »Ich bin der Meinung, dass es heute für unser Land und für die ganze Welt sehr bedeutende Ereignisse gibt. Nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich die Weltordnung. Meiner Meinung nach befinden wir uns heute wieder in einer Zeit, in der sich die Weltordnung ändert. In so einer Zeit kann man nicht abseits stehen. Man muss seine Heimat verteidigen.«

Aleksej ist 58 Jahre alt und geschieden. Seine Tochter war zunächst geschockt von der Entscheidung des Vaters, habe ihn dann aber verstanden. »Als ich meinen Freunden und Bekannten meine Entscheidung mitteilte, waren sie daüber erstaunt. Einige sagten, du hast eine gute Arbeit. Warum dann das? Ich habe gesagt, es ist meine Pflicht an die Front zu gehen. Einige konnten meine Entscheidung nicht verstehen«, sagt Aleksej.

Wie er sich Ukrainern gegenüber verhalten werde, wenn er sie nach dem Krieg treffe? »Ich habe keinen Hass auf die ukrainischen Soldaten, die gegen uns gekämpft haben. Ich habe nicht mit der Ukraine gekämpft, sondern mit den Staaten der NATO. Ich habe auf dem früheren Territorium der Ukraine für die Unabhängigkeit meines Landes gekämpft.«

War es schwer, auf Menschen zu schießen, auf Menschen zumal, die den gleichen Glauben haben und die gleiche Sprache sprechen? Aleksej antwortet mit der Schilderung einer Kampfsituation an einem Morgen. »Es wurde gerade hell, und die Ukrainer begannen zu schießen. Einer aus meiner Gruppe wurde tödlich getroffen. Kurz vorher ging er noch neben mir. Nach der Explosion gab es von ihm nur noch Überreste. Außerdem gab es drei Schwerverletzte. Sie hatten eine Hand oder ein Bein verloren. Als wir die Stellung verließen, sahen wir sehr viele Verwundete. In dieser Situation gab es keine Zeit, darüber nachzudenken, ob du schießt. Dort geht alles sehr schnell, und man muss augenblicklich reagieren. Dir steht der Feind gegenüber, der auf dich schießt, und du schießt auf ihn.«

Ringen um Entschädigung

Die Russen, die an der Front waren, kommen als andere Menschen zurück. Davon berichtete der 51 Jahre alte Moskauer Aleksej Kusinkow in einem Interview mit dem Internetportal Wsgljad. Er hatte sich 2023 freiwillig bei einer Einberufungsstelle gemeldet und war dann in der Volksrepublik Lugansk beim Bezirkszentrum Swatowe als Kommandeur einer Sturmabteilung und Schütze eines großkalibrigen Maschinengewehrs im Einsatz.

Nach einem halben Jahr wurde Kusinkow bei dem Angriff einer ukrainischen Drohne in seiner Erdhöhle verschüttet und schwer verletzt. Er musste dreimal operiert werden und verlor ein inneres Organ. Weil der erste Sanitäter, der ihn rettete, seine Verletzung nicht richtig eingetragen hatte, musste Kusinkow vor Gericht ziehen, um eine Entschädigung zu erhalten. Angehörigen seiner Einheit sei es ähnlich ergangen. Im Sommer 2023 hatten sie einen ukrainischen Stoßtrupp im russischen Gebiet Belgorod unter großen Verlusten abgewehrt. Die Entschädigungen für Verletzungen hätten seine Kameraden erst nach langen Auseinandersetzungen mit den russischen Behörden bekommen. Die argumentierten, die Kämpfe hätten sich auf russischem Territorium abgespielt, für die keine Kampfzuschläge vorgesehen sind.

Auf das Problem angesprochen, versprach Wladimir Putin während der alljährlichen Fragestunde Ende Dezember, russische Soldaten, die auf russischem Territorium kämpfen, mit den russischen Soldaten auf ukrainischem Territorium gleichzustellen.

Kusinkow berichtete, wie schwer es ihm gefallen sei, sich nach dem Fronteinsatz wieder in das zivile Leben einzufinden. Aus Angst vor Minen habe er nur noch auf Asphalt gehen wollen und nackte Erde gemieden. Wenn er das Geräusch von Motorrädern oder Motorrollern höre, bekomme er immer noch Angst, denn es sei ukrainischen Drohnen ähnlich.

Kusinkow wollte schon bald nach der Entlassung aus dem Krankenhaus wieder zurück zu seiner Einheit, mit der er sich bis heute eng verbunden fühlt. Doch Psychologen hätten ihm erklärt, dass sich »seine Front« jetzt im Hinterland befinde. Heute bestehe seine Aufgabe darin, »die Jungs an der Front zu unterstützten«. Kusinkow kümmert sich darum, dass seine ehemalige Einheit mit dem Lebensnotwendigen versorgt wird, zum Beispiel mit Schlafsäcken. Denn die halten bei dem oft nassen Wetter »nicht länger als zwei Wochen«. Zudem versuche er Kriegsversehrte dazu zu bringen, dass sie sich nicht ins »Privatleben« zurückziehen, sondern Umschulungskurse belegen. Der Rückzug ins »Privatleben« bedeute bei Kriegsversehrten oft, dass sie Trost bei der Flasche suchen.

Seine Werte – so erzählte der ehemalige Soldat – hätten sich durch die Fronterfahrung verändert. Vor dem Krieg sei er gerne zum Fußball gegangen oder habe Geld für einen Urlaub in der Türkei oder im westlichen Europa gespart. »Heute ist das für mich unvorstellbar. Was für ein Fußball? Was für ein Europa? Jeder muss jetzt wissen, ob er die innere Kraft besitzt oder nicht.«

Befragt, ob sie bereit seien, an die Front zu gehen, antworten junge Leute in Moskau unterschiedlich. Viele seien »selbstverständlich« oder »im Prinzip« dazu bereit. Nicht wenige sagen jedoch, sie hätten ihren Wohnort gewechselt, um einer Einberufung zu entgehen.

»Ich möchte so leben!«

Wie russische Soldaten der Toten gedenken, war Ende November in einem Konzertsaal, genauer gesagt im »Theater der russischen Armee« nördlich des Moskauer Stadtzentrums, zu erleben. In dem 1940 in Form eines fünfzackigen Sterns erbauten Gebäude mit mehreren Sälen fand eine Ordensverleihung für Absolventen russischer Militärakademien und Teilnehmer der »Spezialoperation« in der Ukraine statt. Im Saal befanden sich zumeist Soldaten Ende zwanzig, die meisten mit kahlgeschorenen Köpfen.

Auf die Ordensverleihung folgte eine Gedenkminute für in der Ukraine gefallene russische Soldaten. Anschließend trugen eine Sängerin und ein Sänger das Lied »Ich möchte so leben« von der russischen Gruppe Roschdestwo vor, auf einer großen Videoleinwand wurden derweil Porträts von gefallenen russischen Soldaten gezeigt. In dem Lied heißt es: »Weißt du, ich will so leben, den Sonnenaufgang in flammendem Rot genießen. Leben, einfach um zu lieben, alle, die mit dir leben. Weißt du, so möchte ich leben, mit dir im Morgengrauen aufwachen, aufstehen und Kaffee kochen, wenn noch alle Welt schläft. Weißt du, ich will so leben, so wie man es nicht in der Zeitung beschreibt. Losgehen und alles verschenken, so leben, dass sich die Kinder daran erinnern.«

Von Waffenstillstand spricht in Russland niemand. »Russland wird den Krieg gewinnen, egal wie lange er dauert«, sagen die Leute in Moskau.

veröffentlicht in: Junge Welt

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