Die Hand des Bruders (der Freitag)
Russland Nichts und niemand ist vergessen. Der 9. Mai zur Erinnerung an den Sieg vor 75 Jahren bleibt der wichtigste Feiertag
Ulrich Heyden | Ausgabe 19/2020
„Am 9. Mai wachte ich morgens immer vom Duft der Beljaschi auf, der kleinen tatarischen Torten mit Fleischfüllung, die es an diesem Tage gab. Gebacken hat sie stets meine Großmutter, Maria Iwanowna“, erinnert sich Swetlana, eine 45 Jahre alte Juristin aus Moskau. Morgens gegen drei Uhr sei Maria aufgestanden, um den Teig mit Hefe anzurühren, das brauchte seine Zeit. „Wir wohnten damals zu fünft, meine Eltern, mein Bruder Sergej, ich und die Großmutter – sie war die wichtigste Erzählerin, wenn wir am 9. Mai zusammensaßen. Es wurde immer zu Hause gefeiert, man redete über den Alltag, sah sich die Siegesparade im Fernsehen an und erinnerte den Krieg.
Zug nach Rjasan
Maria Iwanowna hatte 1937 im Alter von 18 Jahren den Agronomen Sergej geheiratet, mit dem sie auf eine Sowchose in der Nähe von Tula zog, wo ihr Mann auf einer Apfelplantage arbeitete. Beide waren jung und hatten Lust auf das Leben. Doch als Maria 22 Jahre alt war, griff die deutsche Wehrmacht am 22. Juni 1941 die Sowjetunion an, und plötzlich war Krieg. Er schien wie eine Walze zu sein, die alles unter sich begrub. Im Herbst 1941 musste die junge Mutter – Sergej war bereits seit drei Monaten bei der Armee – mit ihren beiden Söhnen, zweieinhalb und dreieinhalb Jahre alt, von Tula in die im Süden gelegene Stadt Rjasan fliehen. Für die gut 150 Kilometer lange Strecke in einem Frachtwaggon der Eisenbahn brauchte sie mehrere Tage. Immer wieder musste der Zug auf Abstellgleisen oder Bahnhöfen warten, um Transporte mit Soldaten und Panzern in Richtung Front passieren zu lassen. Da Marias Güterwagen nicht beheizt war, wickelte sie sich die nassen Windeln zum Trocknen um den eigenen Körper. Unterwegs griffen den Zug mehrfach deutsche Flugzeuge an. Bei einem dieser Überfälle wurde Maria nicht nur an der Schulter verletzt, sondern verlor in der Panik auch ihre Söhne Leonid und Anatoli aus den Augen. Erst Tage später und schon völlig verzweifelt fand sie die beiden in einem Dorf bei fremden Menschen wieder, die sie aufgenommen hatten und ihr berichteten, sie hätten die Jungen nur mit Mühe trennen können. Anatoli habe die Hand seines kleinen Bruders nicht loslassen wollen.
Anatoli, heute ein pensionierter Lehrer und 82 Jahre alt, kann sich an die schrecklichen Stunden noch gut erinnern. „Ich höre das Krachen der Einschläge, die Schreie und das Weinen. Wenn in einem Film solche Geräusche vorkommen, muss ich unwillkürlich an den Zug nach Rjasan denken, der nie ankommen sollte.“ Ich lebe seit 1992 als Korrespondent in Moskau und habe seither manchen Veteranen interviewt oder es zumindest versucht. Es waren nur die wenigsten, die ausführlich reden wollten. Viele der ehemaligen Soldaten gaben mir zu verstehen, ich würde ihnen kein Wort entlocken. Was sie erlebt hatten, war offenbar so furchtbar, dass es tief in ihrer Seele vergraben sein sollte. Viele besänftigten diese Qual regelmäßig mit Wodka.
Einer, der so gut wie nichts sagen wollte, war Fjodor Krisanow, der Großvater meiner zeitweiligen Nachbarin Ljuba. Er verlor 1941 bei einem Gefecht vor der Hafenstadt Noworossijsk am Schwarzen Meer ein Bein. Aber er sei so stark und tapfer gewesen, erzählte mir Ljuba, dass er sich den Beinstumpf selbst abgebunden habe und dann ins Hinterland zum Verbandsplatz gerobbt sei. „Er hat Unglaubliches geleistet. Am 9. Mai war sein Jackett stets voller Orden. Leider hat er die in den 1990er Jahren alle verkauft und versoffen. Es war eine Tragödie, mit ansehen zu müssen, wie es zuletzt um ihn stand.“ Fjodor Krisanow wurde 1993 beim Zurücksetzen eines Lastwagens zerquetscht. Ob es die Krücken waren, mit denen er nicht schnell genug hantieren konnte, oder seine Schwerhörigkeit, die zur Katastrophe führte – wer sollte das wissen?
Ich frage die Juristin Swetlana, warum mir einige Veteranen ausführliche Interviews gaben, andere nicht. Ihre Antwort: „Fragen Sie einen Psychologen. Wahrscheinlich kann man das emotional nicht beherrschen, einfach nur Fakten zu erinnern. Männer rühmen sich gern ihrer Heldentaten. Aber von den Männern, die den Krieg durchleiden mussten, hat sich in meiner Gegenwart nie jemand gerühmt.“ Swetlana meint auch, sie sei den Soldaten des Großen Vaterländischen Krieges bis heute dankbar. „Ich weiß sehr gut, was die Opfer, die sie gebracht haben, für mich bedeuteten: Ich konnte in einer vollzähligen Familie mit Vater und Mutter aufwachsen. Ich lebe in einer weitgehend friedlichen Zeit, ich muss keine Angst vor Detonationen und Zerstörungen haben wie einst meine Großeltern.“ Olga, eine Freundin Swetlanas, ergänzt: „Was wir am 9. Mai feiern, ist die Gewissheit, dass vom Himmel über uns keine Bomben fallen.“
Nach dem Ende der Sowjetunion hatte der Sieg von 1945 in Russland nicht mehr eine solche Bedeutung wie in den Jahrzehnten zuvor. Mit den 1990er Jahren stand die Öffnung zum Westen im Vordergrund. Ritualisierte Abläufe und Botschaften eines Jubiläums sollten das nicht behindern. Der 9. Mai blieb zwar ein arbeitsfreier Gedenktag, doch waren es in Moskau allein die Kommunisten, die aus diesem Anlass weiter ins Stadtzentrum zogen. Wenn sie vorbeimarschierten, spürte man, wie wenig die Auflösung der Staaten-Union akzeptiert wurde. Es gab Karikaturen von Jelzin und Gorbatschow, die von vielen als Verräter verachtet wurden. In den großen Hallen der Metrostationen hörte man Hunderte trotzig das Lied von Wassili Lebedew-Kumatsch und Alexander Alexandrow singen, „Steh auf, du großes Land, steh auf zum tödlichen Kampf …“
Aus Westdeutschland kommend, habe ich den Stellenwert des 9. Mai für die Russen anfangs unterschätzt. Ich nahm an, die Parade auf dem Roten Platz werde sich bald als aus der Zeit gefallenes Zeremoniell erübrigt haben. Als ich das gegenüber einem Kollegen äußerte, der aus Ostdeutschland kam und lange in Moskau als Korrespondent gearbeitet hatte, stieß ich auf ein entschiedenes: „Nein, das ist unmöglich.“ Er empfahl mir, am 9. Mai in den Gorki-Park zu gehen, die Eindrücke seien unvergesslich. Und sie waren es. Da gingen weißhaarige Kriegsveteranen mit grünen und blauen ordensgeschmückten Uniformjacken spazieren, genossen die Sonne und die Anerkennung, die ihnen entgegengebracht wurde. Immer wieder lösten sich kleine Kinder von den Händen ihre Eltern, liefen zu den oft schon gebeugt gehenden Frauen und Männern und übergaben ihnen rote Nelken oder einen Strauß Narzissen. Nichts und niemand sollte sich vergessen fühlen.
Wer von außen auf Russland schaut, dem mag es so scheinen, als sei der Vorbeimarsch des Militärs, der nun wegen der Corona-Pandemie verschoben ist, das alles überragende Ereignis am 9. Mai. Mindestens ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger, sind das kollektive Gedächtnis und das Gedenken der Familien. Wer das bestreitet oder ignoriert, wird die Russen und die russische Politik nie verstehen.
Von Ulrich Heyden erschien zum 75. Jahrestag des Kriegsendes im Hamburger Verlag tredition das Buch Wer hat uns 1945 befreit?
veröffentlicht in: der Freitag