27. August 2009

Die Herren des Kalifats wollen das Gottesgericht

An Russlands Südflanke führt der islamistische Untergrund einen verdeckten Bürgerkrieg

Erst im April hat der Kreml mit großer Geste den Ausnahmezustand für Tschetschenien aufgehoben. Ein Geschenk, wie es schien, an den selbstherrlichen, zuweilen unberechenbaren Präsidenten Ramsan Kadyrow. Der herrscht vorerst nur über einen Schein-Frieden. Im Juli wurden in Grosny drei bekannte Menschenrechtsaktivisten ermordet, außerdem gab es in der Stadt vier Selbstmordanschläge auf öffentlichen Plätzen. Immer seien dabei arabische Instrukteure im Spiel gewesen, ist der kremlkritische, in Moskau erscheinende Kommersant überzeugt.

Noch dramatischer wirkt die Lage in der Nachbarrepublik Inguschetien. Am 17. August rast ein Attentäter in einem gelben Minibus direkt in die Polizei-Zentrale von Nasran, sprengt sich mit 200 Kilogramm Dynamit in die Luft und tötet 25 Menschen. Der islamistische Untergrund im Nordkaukasus will sich nicht mehr mit Scharmützeln begnügen, sondern wieder zu Operationen ausholen wie Anfang September 2004, als im nordossetischen Beslan eine Schule gestürmt und über 1.000 Geiseln genommen wurden.

Auch Junus-Bek Jewkurow, Inguschetiens neuer Präsident, der wenig von brachialen Säuberungen hält und der islamistischen Guerilla einen „gerechten Prozess“ versprochen hat, wenn sie die Waffen niederlegt, wird am 22. Juni bei einem Bombenanschlag schwer verletzt. Jewkurow ist ein Mann mit Renommee und Reputation. Als Generalmajor kommandierte er 1999 kurz vor Ende des Kosovo-Krieges die spektakuläre Einnahme des Flughafens von Pristina durch russische Truppen, was ihm in der Heimat Ruhm und Ehre eintrug. Mit diesem erfahrenen Militär, der in keinen Clan-Kampf verwickelt ist, will Präsident Medwedjew in Inguschetien die Wogen glätten und Verhandlungswege beschreiten. Doch Jewkurow, der mit korrupten Clan-Seilschaften in der Kaukasus-Republik aufräumen will, ist den Islamisten suspekt. Sie wollen neue Anhänger rekrutieren und brauchen dazu ein klares Feindbild, keinen konzilianten Versöhnler.

Schlamperei oder Verrat


Jewkurow war noch in einem Moskauer Hospital um seine Verletzungen auszukurieren, als aus unerfindlichen Gründen die schützende Betonmauer um das Polizei-Hauptquartier von Nasran abgerissen wurde. Auch sollen einige Beamte gewusst haben, dass ein Überfall mit einem gelben Minibus bevorsteht. Wundern kann sich über solche Verstrickungen in Inguschetien niemand mehr. Für einen Polizisten kann Clan-Loyalität wichtiger sein als ein Prekas aus dem Moskauer Innenministerium. So bedenkt denn auch der russische Präsident Dmitri Medwedew den Anschlag vom 17. August auf die Polizei-Zentrale von Nasran mit einer gewissen Resignation und kommentiert mit den Worten: „Schlamperei oder Verrat! Was sonst?“

Künftig sollen der inguschetische Polizeiapparat und Geheimdienst direkt aus Moskau gelenkt werden. Ein Autoritätsverlust für den neuen Präsidenten, denn die „Föderalen“ halten viel von einem Anti-Terror-Kampf ohne Wenn und Aber und wenig von Taktik und Vorsicht. Ein schonender Umgang mit dem Gegner ist nicht vorgesehen. Wird der in einem Versteck aufgespürt, fahren Panzer auf, um die Lage zu klären.

Das Massaker von Bujnaksk


Im Nordkaukasus köchelt der Abnutzungskrieg mit dem islamistischen Untergrund ab er nicht nur in Tschetschenien und Inguschetien, sondern auch in Dagestan. Die fundamentalistische Website Kafkazcenter behauptet, in dieser Republik würden Polizisten vor lauter Angst, aus dem Hinterhalt erschossen zu werden, massenhaft ihren Dienst quittieren. Und die Website Kaukasischer Knoten meldet, der Innenminister von Dagestan habe Order gegeben, dass Beamte aus Sicherheitsgründen ihren Dienst in Zivil ausüben dürfen.

Wie gefährlich die Lage ist, zeigt der 13. August, als sieben Schließerinnen einer Sauna im dagestanischen Bujnaksk von einer islamistischen Bande ermordet werden. Als die Frauen von Schüssen auf ihr Gebäude aufgeschreckt wurden, verbarrikadierten sie sich in einer Teeküche, wurden aber von den Angreifern aufgespürt. Kurz zuvor hatten die selben Männer einen nahe gelegenen Polizeiposten überfallen, vier Polizisten getötet und deren Kalaschnikows erbeutet. Sie zwangen daraufhin den einen Busfahrer zur Sauna Olimp zu fahren. Wie Alexander Bastyrkin, der Chef des russischen Ermittlungsteams, später mitteilte, stand die 15-köpfige Bande unter dem Kommando des 48 Jahre alten Nabi Migitdinow, der sich zum „Emir“ für die Region Bujnaksk erklärt hat und in der Regel so schnell wieder verschwindet, wie er auftaucht.

Wenige Tage zuvor hatte eine Initiativgruppe der Moslems von Schamilkala (islamistische Bezeichnung für Machatschkala, die Hauptstadt Dagestans) im Internet alle „Zuhälter und Sauna-Besitzer“ aufgefordert, ihre Einrichtungen zu schließen, andernfalls werde sie die strafende Hand Allahs treffen. Kein Zweifel, erstmals versuchen Fanatiker die Kaukasus-Republiken nicht nur in Angst und Schrecken zu halten, sondern mit Strafaktionen wie der von Bujnaksk eine fundamentalistische Lebensweise durchzusetzen.

Auch Präsident Ramsan Kadyrow in Grosny macht kein Hehl daraus, von den Extremisten unter Druck gesetzt zu werden und nachgeben zu müssen. Er verbietet Glücksspiele und verlangt von den Frauen, sie sollten lange Röcke sowie Kopftücher tragen und die Arme bedeckt halten. „Eine Frau muss wissen, wo ihr Platz ist“, sagt Kadyrow. Wenn sie „über die Stränge schlägt“, werde sie von der Familie zur Rechenschaft gezogen, unter Umständen getötet. „So sind unsere Sitten“.

Doch lässt der Mord an den sieben Frauen aus der Sauna von Bujnaksk begreifen, wie wenig Konzessionen nützen, auch wenn der Innenminister Dagestans davon überzeugt ist, derartige Exzesse würden „aus dem Ausland angeheizt“. Die Menschen in Dagestan hätten „keinen Grund sich gegenseitig umzubringen“. Wie die Republik zum islamischen Terror stehe, habe sie vor zehn Jahren gezeigt, als zusammen mit russischen Soldaten mehrere Hundert Freischärler getötet wurden, die unter Führung des tschetschenischen Feldkommandeurs Shamil Basajew standen.

Keine Erfindung des Kreml

Andrej Grosin vom GUS-Institut an der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau glaubt, die Guerilla im Nordkaukasus habe für einen „breit angelegten terroristischen Krieg“ weder genügend Kraft noch die nötige Ausrüstung. Zu Militäroperationen, wie sie einst Basajew unternahm, seien sie nicht in der Lage.

Das mag stimmen, doch terroristische Kommando-Aktionen bleiben möglich. Ein besonders abschreckendes Beispiel war im Juni 2004 der Überfall von 200 Gotteskriegern auf das inguschetische Verwaltungszentrum Nasran, als 98 Menschen – Polizisten, Geheimdienstmitarbeiter und Staatsanwälte – auf die Straße gezerrt und erschossen wurden.

Weshalb kommt es zu derart barbarischen Verbrechen? Der Tschetschenien-Krieg mit Tausenden von Toten hat das feine Netz der sozialen Strukturen wie auch den Sitten-Kodex im Nordkaukasus nicht unberührt gelassen. Die Arbeitslosigkeit liegt seit Jahren über 50 Prozent. Der Kreml hat die Macht in den nordkaukasischen Republiken korrupten, oft autoritär regierenden Vasallen übertragen, deren Legitimation umstritten ist.

Im Kampf der Tschetschenen um die Unabhängigkeit von Moskau spielten radikale Islamisten anfangs eine eher marginale Rolle. Doch dann kam das Jahr 1998, als die russischen Truppen nach dem von Alexander Lebed mit dem tschetschenischen Präsidenten Maschadow ausgehandelten Friedensvertrag von Chasawjurt vollständig abgezogen. Doch verlor Maschadow schnell die Kontrolle über die errungene Autonomie. Söldner aus arabischen Staaten unter Führung des Jordaniers Chattab bauten gemeinsam mit den radikalen Separatisten um Shamil Bassajew Trainingslager nach dem Vorbild der afghanischen Mudschahedin-Camps auf. Sie wurden zu Brückenköpfen, um die fundamentalistische Lehre des Islam (Wahhabismus) in Tschetschenien zu verbreiten. Trotz ihrer Niederlage im zweiten Tschetschenien-Krieg (1999 - 2000) ließen sich die Wahhabiten aus dem Nordkaukasus nicht wieder vertreiben. Ihre Radikalität ist mitnichten eine Erfindung des Kreml, mit dem dieser rabiate Säuberungsaktionen rechtfertigen und seinen Anspruch auf die Region untermauern will.

"Der Freitag"

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