Igor Maximytschew, 1989 Gesandter der Botschaft der UdSSR in Berlin, Foto: Ulrich Heyden 2019
Das Interview führte Ulrich Heyden am 25. Oktober 2018 in Moskau.
Die DDR war ein Kind der Sowjetunion. Sie war zugleich ein Zeugnis des Kalten Krieges. Die westdeutsche Elite hatte sich in den 1950er Jahren immer gegen Vorschläge aus Moskau gesperrt, Deutschland zu vereinen. Als dann 1989 die Menschen in der DDR für eine Reform der Gesellschaft, ein Mehrparteiensystem und freies Reisen auf die Straße gingen, sah die Sowjetunion dieser Entwicklung tatenlos zu. Der Grund war, dass sich das sowjetische System selbst in einer schweren Krise befand und die Sowjetunion außerhalb seiner eigenen Grenzen nicht mehr handlungsfähig war. Die Rüstungskosten bremsten die wirtschaftliche Entwicklung und die Versorgung der Bevölkerung. Dazu kam, dass der sowjetischen Gesellschaft der Enthusiasmus abhandenkam, der den Menschen noch bis in die 1940er Jahre das Gefühl gegeben hatte, sie seien die Erbauer einer gerechten Gesellschaft.
Michail Gorbatschow erkannte das Problem und versuchte das schier Unmögliche: mit dem Erzfeind im Westen ins Gespräch zu kommen, um endlich den Druck der Rüstungskosten loszuwerden und eine moderne Entwicklung einzuleiten. Aber wie sich bald herausstellte, war der Plan nicht bis zu Ende durchdacht.
Es fing hoffnungsvoll an. Am 8. Dezember 1987 unterzeichneten Michail Gorbatschow und Ronald Reagan in Washington die INF-Verträge über die Abrüstung von Mittelstreckenraketen. Trägersysteme und Abschussvorrichtungen wurden beseitigt.
Parallel zur Abrüstung propagierte Gorbatschow unter der Parole „Perestroika und Glasnost“ — Umbau und Transparenz — eine Erneuerung des Sozialismus. Unterstützung fand das von Gorbatschow verkündete Erneuerungsprogramm bei der wissenschaftlich-technischen Intelligenz, die schon lange mehr Mitsprache in der Politik und mehr Eigenständigkeit für die Betriebe forderte.
Millionen Menschen von einer Erneuerung des Systems zu überzeugen, war nicht schwer, denn vor den Lebensmittelläden in der Sowjetunion bildeten sich Ende der 1980er Jahre lange Schlangen. Gutes Fleisch bekam man nur über Beziehungen.
Angesichts dieser Zustände waren die Menschen bereit für einen Wandel. Was Kapitalismus in der Praxis bedeutete, wussten die Menschen allerdings nicht. Denn bis auf ein paar Diplomaten, Sportler und Künstler war noch niemand im „kapitalistischen Westen“ gewesen.
Unter Kapitalismus stellten sich die Sowjetbürger etwas sehr Angenehmes vor. Sie hatten viel vom „schwedischen Sozialismus“ gehört. Und so etwas wollten sie auch für Russland.
Dass sich die russischen Wirtschaftsreformer um Jegor Gajdar und Anatoli Tschubais, die unter Präsident Boris Jelzin an die Macht kamen, an den Konzepten von Milton Friedman orientierten, der den Abbau staatlicher Leistungen und „freie Märkte“ propagierte und an dem sich auch die Putschisten in Chile 1973 orientierten, war den Russen nicht bekannt.
Kritik an der Perestroika wurde in Russland erst 1992 laut, als die Bevölkerung die Auswirkungen der von Jegor Gajdar und Anatoli Tschubais durchgeführten wirtschaftlichen Schocktherapie zu spüren bekam. Am 2. Januar 1992 trat ein Beschluss des Volksdeputiertenkongresses in Kraft, die staatliche Regulierung der Preise abzuschaffen. Die Abschaffung der vom Staat festgesetzten Preise führte zu einer Hyperinflation und vernichtete über Nacht faktisch fast die gesamten Sparguthaben der einfachen Russen. Nach der Preisfreigabe gab es dann bald wieder Waren in den Läden, aber die Menschen hatten kein Geld mehr, sie zu kaufen.
An die 1990er Jahre erinnern sich die meisten Russen und Russinnen mit Schrecken. Die Zeit unter Breschnjew erschien dagegen als Idylle. Von 1989 bis 1997 sank die Industrieproduktion um 42 Prozent. 1995 waren die Realeinkommen im Verhältnis zu 1991 um 45 Prozent gesunken.
Die Preisfreigabe war nicht die einzige Maßnahme der Schocktherapie. Die Einführung des Kapitalismus in Russland war nach Meinung von Gajdar und Tschubais nur möglich, wenn der Superstaat Sowjetunion zerschlagen wird. Das deckte sich mit den Interessen des Westens. Der hoffte auf einen leichten Zugang zu den Rohstoffen des Riesenlandes.
Im Dezember 1991 lösten die Präsidenten Russlands, Weißrusslands und der Ukraine ohne vorherige öffentliche Debatte die Sowjetunion auf. Die Auflösung führte zu einem dramatischen Wirtschaftseinbruch, denn die Betriebe in den 15 Sowjetrepubliken, die untereinander eng vernetzt waren, wollten ihre Produkte jetzt nur noch gegen Dollar an ihre Abnehmer verkaufen.
Nach einem dilettantisch organisierten und schnell zusammengebrochenen Putsch der Gegner von Gorbatschow und Jelzin im August 1991 holte Jelzin zum Gegenschlag aus. Die KPdSU wurde verboten, konnte sich aber später als Kommunistische Partei der Russischen Föderation neu konstituieren.
Dramatisch war die ideologische 180-Grad-Wendung in der Führung Russlands für den ehemaligen Generalsekretär der SED, Erich Honecker. Vor dem „August-Putsch“ in Moskau fand der schwerkranke Honecker noch im sowjetischen Militärkrankenhaus Beelitz in Brandenburg Zuflucht. Und am 13. März 1991 wurde er sogar mit einer sowjetischen Militärmaschine nach Moskau ausgeflogen. Das verärgerte die Bundesregierung, denn gegen Honecker lag seit dem 30. November 1990 ein Haftbefehl des Amtsgerichts Berlin-Tiergarten wegen eines angeblichen Schießbefehls an der Mauer vor.
Dass die Sowjetunion Honecker half, sich den Fängen der westdeutschen Justiz zu entziehen, war nicht völlig selbstverständlich. Denn zwischen Gorbatschow und Honecker gab es Widersprüche. Honecker betrachtete die Entwicklung in der Sowjetunion während der Perestroika mit Sorge. Er kritisierte den großen Bruder zwar nicht, doch ersetzte alles daran, dass die Ideologie der Perestroika in der DDR keine Verbreitung fand. So ließ die DDR-Regierung am 18. November 1988 die Auslieferung der deutschsprachigen Zeitschrift „Sputnik“, welche Aufsätze aus sowjetischen Medien nachdruckte, einstellen.
Doch kaum in Moskau angekommen, war Honecker auch dort nicht mehr sicher. Boris Jelzin, der selbst jahrzehntelang hohe Funktionen in der sowjetischen Parteibürokratie bekleidet hatte und im Juni 1991 zum Präsidenten Russlands gewählt worden war, forderte den ehemaligen SED-Generalsekretär im Dezember 1991 auf, Russland zu verlassen, worauf Honecker mit seiner Frau Margot in die chilenische Botschaft in Moskau flüchtete.
Nun fuhr Bonn neue Geschütze auf. Die Bundesregierung erklärte, wenn Chile ein Rechtsstaat sei, müsse es Honecker, gegen den ein Haftbefehl vorliege, ausliefern.
Am 29. Juli 1992 war es dann soweit. Der schwerkranke Honecker wurde nach Berlin ausgeflogen. Er wurde in die Justizvollzugsanstalt Moabit eingeliefert, wo er auch schon unter den Nazis inhaftiert gewesen war.
Der Verfolgungseifer gegen Honecker zeigte, dass die deutsche Justiz einem Symbol des Sozialismus auf deutschem Boden unbedingt den Prozess machen und der ganzen Welt zeigen wollte: Wir haben gesiegt.
Der Fall Honecker wird hier so ausführlich dargestellt, weil sich an diesem Fall zeigt, wie schwach Russland gegenüber dem Westen in jenen Jahren war.
Gorbatschow, der 1986 angab, den Sozialismus modernisieren zu wollen — von Abschaffung war nie die Rede —, entglitt schon bald die Kontrolle über den Reformprozess. Als die Zentrale in Moskau die Zügel lockerer ließ, begannen regionale Parteieliten ihre eigene Politik zu machen. In der Sowjetunion geregelte Konflikte und alte Wunden brachen wieder auf. 1988 kam es in den Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan zu gewalttätigen Konflikten zwischen Armeniern und Aserbaidschanern. Im Frühjahr 1990 erklärten die baltischen Staaten ihre Unabhängigkeit.
Der von Unterstützern der alten sowjetischen Ordnung am 19. August 1991 begonnene Putsch gegen den Präsidenten der Sowjetunion verhinderte faktisch Gorbatschows Plan, am 20. August 1991 einen neuen Unions-Vertrag zu unterzeichnen, der den Sowjetrepubliken mehr Freiheiten gegeben hätte. Der „Putsch“, der nach Angaben seiner Initiatoren das Auseinanderbrechen der Sowjetunion verhindern sollte, beschleunigte die zentrifugalen Kräfte in dem Riesenland und lieferte den Radikalreformern um den am 12. Juni 1991 gewählten Präsidenten Russlands, Boris Jelzin, das Argument, mit der Sowjetunion und dem Sozialismus müsse man nun endgültig Schluss machen.
Unklar ist bis heute, warum der „Putsch“ — bei dem kein einziger Schuss fiel — schon nach drei Tagen wieder abgebrochen wurde und warum Radikalreformer Boris Jelzin, der sich während der Putsch-Tage in Moskau frei bewegen konnte, nicht verhaftet wurde.
Das Ende der DDR wurde in Westdeutschland und auch von vielen Ostdeutschen bejubelt. Doch die gesamte Entwicklung war tragisch, denn es war absehbar, dass die westdeutschen Eliten mit allem, was die DDR hinterlassen hat, nicht zimperlich umgehen würden.
Die Gründung der DDR im Jahre 1949 wäre ohne die Hilfe der Sowjetunion nicht möglich gewesen. Doch als die Sowjetunion selbst in eine politische Krise geriet und die politische Führung zentrale Bausteine des sowjetischen Staatswesens und der Staatsideologie aufgab, gab es in Moskau weder den Willen noch die wirtschaftliche Kraft, die Existenz eines zweiten deutschen Staates zu sichern.
Offenbar spürten die Eliten in Osteuropa, dass die Führung der Sowjetunion nicht mehr willens und in der Lage war, eigene Wege zu unterdrücken, wie noch 1968 in Prag. Überall kam es zu Demonstrationen für Unabhängigkeit. Am 26. April 1989 hatte das Militärbündnis „Warschauer Pakt“ beschlossen, dass die Mitgliedsstaaten nun frei seien in der Entscheidung über ihren politischen Weg.
In der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei wurden Stimmen laut, die den Abzug der sowjetischen Truppen forderten. Am 11. September 1989 gestatte Ungarn DDR-Bürgern offiziell die Ausreise nach Österreich. Im August 1989 demonstrierten Hundertausende Menschen im Baltikum für die Unabhängigkeit.
Wie Karen Brutenz, stellvertretender Leiter der internationalen Abteilung im ZK der KPdSU, berichtete (2), hatte Gorbatschow schon im Januar 1989 bei einem Treffen mit dem US-Sicherheitsexperten Henry Kissinger in Moskau zu verstehen gegeben, dass die Sowjetunion eine Liberalisierung in Osteuropa nicht verhindern werde. Im Gegenzug erwarte man von den USA, dass sie die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion achte.
Anfang Dezember 1989, bei einem Treffen mit dem US-Präsidenten George Bush auf Malta, definierte Gorbatschow das erste Mal seine Haltung zu den Unabhängigkeitsbestrebungen in Osteuropa:
„Wir sind für friedliche Wechsel, wir wollen uns nicht einmischen und werden uns nicht in zukünftige Prozesse einmischen. Sollen die Völker ohne Einmischung von außen entscheiden, wie sie leben wollen.“
Nachdem in Moskau die Radikalreformer um Boris Jelzin die Macht im Staat übernommen hatten, schwenkten die russischen Medien auf die westliche Erzählung „von der glücklichen Vereinigung der Deutschen“ ein. Diese Erzählung hält bis heute an. Dass die starken sozialen Verwerfungen in Ostdeutschland nach der Wende einer der Gründe für das Erstarken der Rechtspopulisten und Faschisten sind, darüber berichteten die russischen Medien nicht.
Die Russen waren in den 1990er Jahren bereit, sich in den Kapitalismus einzuleben. Was jedoch bei vielen Russen damals ein mulmiges Gefühl hinterließ, war der Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus Ostdeutschland, ohne dass es von deutscher Seite eine entsprechende Gegenleistung gab, etwa die schriftliche Verpflichtung der NATO, sich nicht nach Osten auszuweiten. Im Endeffekt fühlt sich ein Großteil der Russen von Jelzin und Gorbatschow bis heute um soziale Sicherheit und Sicherheit vor der NATO betrogen. Die Popularitätsrate von den im Westen einst bejubelten Politikern Gorbatschow und Jelzin liegt in Russland bis heute bei nur wenigen Prozentpunkten.
Ulrich Heyden, Moskau, 30.10.19
Quellen und Anmerkungen:
(1) Die „Charta von Paris für ein neues Europa “, ist ein internationales Abkommen über die Schaffung einer neuen friedlichen Ordnung in Europa nach der Wiedervereinigung Deutschlands und der Einstellung des Kalten Krieges.
(2) Siehe: Die „Doktrin Gorbatschow“ und der Rückzug der UdSSR aus Osteuropa