8. November 2010

Die Schläger kamen mit Blumen

Von Ulrich Heyden, SZ-Korrespondent in Moskau

Ein russischer Journalist hat kritische Texte fast mit dem Leben bezahlt. Er berichtete über einen umstrittenen Autobahnbau.

Es war etwa um halb eins. Ich hörte Schreie und Stöhnen“, berichtete Olga, eine ältere Anwohnerin, die in der Pjatnizkaja-Straße im Zentrum von Moskau wohnt, gegenüber dem Fernsehkanal NTW. Vor dem Haus sah sie einen Mann liegen, „das Gesicht und die Beine waren blutig, die Finger zertrümmert.“ Bei dem Mann handelte es sich um Oleg Kaschin, Journalist der Kreml-kritischen Tageszeitung „Kommersant“.

Augenzeuge am Tatort

Nach Aussagen eines Arbeiters, der für die Reinigung des Hofs verantwortlich ist, warteten zwei Männer mit Blumen auf den Journalisten. Sie hätten den Reporter mit einem harten Gegenstand geschlagen, berichtete der Arbeiter.

Schwer verletzt wurde Kaschin in ein Krankenhaus gebracht. Nach einer Operation versetzten ihn die Ärzte in ein künstliches Koma. Sie diagnostizierten gebrochene Unter- und Oberkiefer, gebrochene Unterschenkel, eine Gehirnerschütterung und zerquetschte Finger.

Präsident Dmitri Medwedjew reagierte auf den Anschlag ungewöhnlich schnell. Am Sonnabendmittag schrieb Medwedjew in seinem Twitter-Blog, die Täter müssten gefunden und bestraft werden. Der Präsident wies Generalstaatsanwalt Juri Tschaika und Innenminister Raschid Nurgalijew an, die Untersuchungen unter ihre „besondere Kontrolle“ zu stellen.

Beobachter äußerten sich skeptisch. Bisher, so hieß es, sei keine der Gewalttaten gegen Journalisten aufgeklärt worden – weder der Mord an Anna Politikowskaja, die 2006 erschossen worden war, noch der Überfall auf den Fernseh-Moderator Wladimir Listjew, der 1995 ums Leben kam. Beide Journalisten fielen vor ihren Wohnungen den Anschlägen von Auftragskillern zum Opfer.

Kaschins Kollegen befürchten, dass auch diesmal die Schuldigen unbehelligt bleiben. Es bestehe die Gefahr, dass solche gewaltsamen Methoden erneut triumphieren könnten, kommentierte der „Kommersant“: „Die Straffreiheit für die Täter wird immer neue Gewalt hervorbringen.

„Kommersant“-Chefredakteur Michail Michailin ist sich sicher, dass der Überfall mit Kaschins Tätigkeit als Journalist zu tun hat. Kaschin spezialisierte sich auf die Themen Jugendbewegungen und Protestaktionen. Für Aufsehen gesorgt hatte ein Interview Kaschins mit einem Vertreter der Moskauer Antifa-Bewegung. Darin ging es um eine Protestaktion von 200 Antifa-Aktivisten gegen den Bau der Autobahn Moskau – St. Petersburg. Die Schnellstraße soll durch den Chimki-Wald führen – eine der grünen Lungen Moskaus. Bei der Protestaktion vor der Gebietsverwaltung der Stadt Chimki waren auch Steine geflogen. Nach der Veröffentlichung des Interviews erklärte die Kreml-nahe Jugendorganisation „Junge Garde“ auf ihrer Website, Kaschin und die Zeitung „Kommersant“ hätten sich zum Sprachrohr von Extremisten gemacht. Eine „Bestrafung“ sei unausweichlich. Nach dem Anschlag auf Kaschin verurteilte ein Sprecher der Jungen Garde den Überfall jedoch als „barbarisches Verbrechen“.

Menschenrechtsorganisationen wie die Moskauer Helsinki-Gruppe und Memorial erklärten, der Überfall auf den Kommersant-Mitarbeiter stehe „in einer Reihe von Auftragsverbrechen“. In der Nacht auf Freitag war einer der Organisatoren der Protestkundgebungen gegen den Autobahnbau durch den Chimki-Wald von einem Unbekannten mit einem Baseballschläger traktiert worden. Im November 2008 war der Chefredakteur der „Chimkinskaja Prawda“ fast totgeprügelt worden. Er sitzt jetzt im Rollstuhl und kann nicht mehr sprechen. Ein Bein wurde ihm amputiert.

Lange Hand der Verwaltung


Beobachter in Moskau vermuten hinter den Anschlägen auf Journalisten und Bürgerrechtler, die sich zum Autobahnbau durch den Chimki-Wald äußerten, die lange Hand der Verwaltung des Chimki-Gebiets. Die will das Projekt offenbar auf Biegen und Brechen durchboxen, weil damit auch lukrative Gewerbeansiedlungen locken. Staatspräsident Dmitri Medwedew hatte den Autobahnbau Ende August vorläufig gestoppt.

veröffentlich in: Sächsische Zeitung

Teilen in sozialen Netzwerken
Bücher
Foto