5. February 2018

Die Stalingrad-Abrechnung

Kein Mitgefühl, sondern kaum verhüllter Hochmut und Belehrungen bestimmten die „Tagesschau“-Berichte zum 75. Jahrestag des Sieges über die Hitler-Wehrmacht in Stalingrad.

Die wichtigste Erkenntnis der „Tagesschau“-Redaktion zum 75. Jahrestag des Sieges von Stalingrad ist: Deutschland hat seine NS-Geschichte hervorragend aufgearbeitet. Putin aber will nicht über Stalins Verbrechen reden und hält stattdessen „pompös-martialische“ Gedenkveranstaltungen ab, um seine Macht zu stärken. „Tagesschau“ und „Tagesthemen“ berichteten (1) von den Feiern in Wolgograd voller Kälte, ohne Emotion und mit kaum kaschiertem Hochmut.

 

Deutscher Nachwuchs-Historiker: „Stalingrad symbolisch aufgeladener Ort“

 

Als Experte durfte Sönke Neitzel vom Historischen Institut Potsdam die größte Niederlage, die Deutschland jemals erlebt hat, „historisch einordnen“. Deutschland habe die Geschichte des Nationalsozialismus vorbildlich aufgearbeitet, Russland dagegen bediene sich der Geschichte „wie an einem Wühltisch“, so der Nachwuchs-Historiker. Putin suche sich einfach einen „symbolisch aufgeladenen Ort“ aus, um das Land um den Präsidenten zu einen.

„Symbolisch aufgeladener Ort“, das klingt so emotionslos, dass es einem kalt den Rücken runterläuft. Wo ist das Gefühl für die hunderttausenden deutschen Soldaten, die für die Welteroberungspläne der Nazis verheizt wurden? Wo ist das Eingeständnis, dass die sowjetischen Soldaten in Stalingrad eine Heldentat vollbrachten, dass sie Europa vor dem Faschismus retteten?

Tagesschau-Experte: „Die Russen müssen erstmal ihre Vergangenheit aufarbeiten“

Deutschland könnte Größe zeigen, indem es den sowjetischen Soldaten dankt. Stattdessen stellt sich Jung-Historiker Sönke Neitzel hin und preist die Leistungen Deutschlands bei der Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Die Russen hätten die Aufarbeitung ihrer Geschichte nach einem kurzen Aufbruch in den 1990er Jahren dagegen abgebrochen. Russland wolle nicht über die sprechen, „die von der Roten Armee erschossen wurden“. Wen Neitzel damit genau meint, bleibt unklar. Meint er die Hunderten von deutschen Aufklärern und Sondereinsatzgruppen, die hinter den sowjetischen Linien tätig waren und im Großraum Stalingrad von Rotarmisten gefangengenommen wurden?

Neitzel fordert, die Russen müssten darüber reflektieren „wie die Rote Armee gekämpft“ hat. Hinter dieser Äußerung steckt der Vorwurf, die Rote Armee habe zu brutal gekämpft. Was meint er damit? Den Einsatz der Stalin-Orgel, die in Russland liebevoll „Katjuscha“ genannt wird?

Viele „Via Stalingrado“ in Italien

Warum erwähnt Neitzel nicht, dass der Heldenmut der sowjetischen Soldaten in Großbritannien und den USA von Politikern und Medien damals überschwänglich gefeiert wurde? Warum erwähnt er nicht, dass es in Paris eine Bahn-Station „Stalingrad“ und in Italien zahlreiche Straßen mit dem Namen „Via Stalingrado“ gibt?

Nach der Logik von Neitzel dürfte es diese Straßennamen nicht geben. Haben Italiener und Franzosen ihre Geschichte nicht aufgearbeitet oder ist Deutschland als Führungsmacht in Europa wieder zum Kalten Krieg zurückgekehrt?

Es stößt bitter auf, dass in den Tagesschau-Beiträgen vom 2. Februar die Worte „deutscher Angriff“ und „Vernichtungskrieg“ fehlen. Dafür wird reichlich Gebrauch gemacht von den Worten „Schlacht“ und „Hitlers Niederlage“. Hunderttausende seien auf beiden Seiten gestorben. Das klingt nach tragischer Verstrickung von zwei Diktatoren, aber nicht nach einem schuldhaften, unangekündigten Angriff von Hitler-Deutschland.

Besuch von Linke-Abgeordneten und deutschem Botschafter in Wolgograd verschwiegen

In dem Bericht der ARD-Korrespondentin Birgit Virnich wird mit keinem Wort erwähnt, dass am 2. Februar sowohl die Abgeordneten der Partei Die Linke, Stefan Liebich und Heike Hänsel, als auch der deutsche Botschafter in Moskau, Rüdiger von Fritsch (2), bei den Gedenkfeierlichkeiten dabei waren.

Offenbar passt es nicht in den aggressiv-hochmütigen Stil der Tagesschau-Berichterstattung, dass da Deutsche zusammen mit Russen der schrecklichsten Schlacht im Zweiten Weltkrieg gedacht haben. Aber haben die Linke-Abgeordneten nicht die Gefühle zumindest von einem großen Teil der Deutschen in Wolgograd vertreten? Sind diese Gefühle zu akzeptieren oder handelt es sich dabei um „Nachgeben gegenüber Russland“?

Die Tagesschau-Redaktion nimmt sich das Recht heraus unsere Gefühle zu lenken, weg von der Versöhnung, hin zum Hochmut. Damit macht sie genau das, was sie Putin wortreich vorwirft: Sie nutzt den Stalingrad-Gedenktag für politische Ziele .

Die Linken hoffen, dass es die Bundesregierung nicht so gemeint hat

Stefan Liebich und Heike Hänsel haben es nach Wolgograd geschafft. Sehr gut! Ich habe mich gefreut. Gut auch, dass RT deutsch über den Besuch der Linke-Abgeordneten und die Militärparade in Wolgograd eine Reportage gemacht hat. Reportagen dieser Art wurden vor zehn Jahren noch in der Tagesschau gesendet. Nun ist es der russische Staatssender RT, der dafür sorgt, dass die fehlende Meinungspluralität in Deutschland nicht völlig verloren geht. Vielen Dank dafür!

Doch warum trug der Linke-Abgeordnete Liebich im RT-Interview nur eine abgeschwächte Kritik an der Bundesregierung vor? Die Bundesregierung hatte in einer Antwort auf eine Anfrage von Linken-Abgeordneten, erklärt, man könne nicht von einem verbrecherischen Krieg sprechen. Jeder Vorfall müsse einzeln geprüft werden (3).

Der Linke-Abgeordnete Liebich drückte seine Hoffnung aus, dass die Bundesregierung eigentlich nicht hinter dieser skandalösen Antwort steht. Die Antwort auf die Linken-Anfrage sei möglicherweise im Trubel der Regierungsneubildung entstanden.

Nach Meinung des Autors gibt es keinen einzigen stichhaltigen Grund anzunehmen, diese Antworten seien in der Zeit der Regierungsneubildung politisch weniger ernst zu nehmen.

Stalingrad-Gedenken im südukrainischen Saparoschje verhindert

Was der Geist des Kalten Krieges gegen Russland in der Ukraine hervorbringt, ist im Vergleich zu Deutschland noch dramatischer. In der Stadt Saparoschje wurden zwanzig Rentner vom „Regiment des Sieges“, welche an einem Weltkriegsdenkmal Blumen niederlegen wollten, von ukrainischen Ultranationalisten massiv behindert.

Die ukrainischen Nationalisten störten diese Zeremonie durch laute Musik und bewarfen die Rentner mit einer Rinderleber. Das Wurfgeschoss sollte die „blutige Macht der Bolschewisten“ symbolisieren. Tätliche Angriffe konnten nur verhindert werden, weil die Polizei vor Ort war.

Der Sieg des sowjetischen Volkes über die Nazis in Stalingrad wird in der Ukraine jetzt als Vorbote der „russischen Okkupation“ bezeichnet, schreibt der oppositionelle Rada-Abgeordnete Aleksandr Subewski auf Facebook. Der Leiter der Organisation „Regiment des Sieges“, Andrej Iwanow, konnte an der Gedenkaktion im südukrainischen Saparoschje nicht teilnehmen, da die Polizei seine Wohnung durchsuchte. Gegen Iwanow läuft ein Strafverfahren wegen „Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine“ und Landesverrat. Auch das örtliche Büro der KPU wurde durchsucht, weil dort kommunistische Symbole hergestellt und verteilt würden, berichtete das Internetportal Ukraine.ru.

Das Vorgehen der ukrainischen Sicherheitsorgane ist nicht neu. Auch Gedenkveranstaltungen in Odessa zum Brandanschlag von Ultranationalisten auf das Gewerkschaftshaus am 2. Mai 2014, bei dem mindestens 42 Menschen starben, wurden unter dem Vorwand angeblicher Bombenwarnungen bereits mehrmals verboten. Am 9. Mai 2017, den Oppositionelle in Odessa als historischen Siegestag feiern wollten, begannen bereits am Morgen Hausdurchsuchungen bei den Organisatoren des „Unsterblichen Regiments“, das ein Gedenken in Odessa plante.

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