24. March 2011

Die vergessenen Helden von Tschernobyl (Sächsische Zeitung)

Foto: Ulrich Heyden
Foto: Foto: Ulrich Heyden

Nach dem Super-Gau 1986 ging Strahlenexperte Walentin Kuklew zum Aufräumen in die Ukraine – heute ist er schwer krank.

Wenn er die Fernsehbilder aus Japan sieht, erregt sich Walentin Kuklew jedes Mal aufs Neue. „Dort werden heute die gleichen Fehler gemacht wie damals in Tschernobyl“, sagt der 66-Jährige. „Man muss die Wahrheit wissen, um richtig reagieren zu können. Die japanische Regierung und die Medien informieren nicht richtig über die Situation vor Ort.“

Kuklew ist Strahlenexperte und gehörte zu den 600000 Aufräumarbeitern, die zwischen 1986 und 1992 rund um den Unglücksreaktor von Tschernobyl eingesetzt wurden. Diese Männer, die in Russland „Liquidatori“ heißen, räumten die radioaktiven Trümmer auf Schuttplätze und bauten eine Betonhülle um den explodierten Reaktor. „In der Sowjetunion wurde man dazu erzogen, gesellschaftliche Ziele über persönliche Interessen zu stellen. Aber natürlich gibt es in jedem Land Menschen, die ihre Pflicht bis zum Schluss erfüllen. Diese Leute verstehen, dass es schreckliche Folgen für alle hat, auch für die eigene Familie, wenn sie ihren Arbeitsplatz verlassen.“

Seit seinem Einsatz in der Unglückszone von Tschernobyl hat er starke Gesundheitsprobleme. Sein Immunsystem ist gestört. Er kann nur noch schlecht laufen. Sein Herz ist schwach. Er kann sich nicht mehr lange konzentrieren und erregt sich leicht. Mit seiner Frau wohnt er in einer gemütlichen Zwei-Zimmer-Wohnung im Süden von Moskau und bekommt umgerechnet 1200 Dollar Sozialunterstützung. Das sei mehr, als die meisten ehemaligen Liquidatori erhalten, die von der russischen Regierung mit im Schnitt umgerechnet 300 bis 500 Dollar abgespeist würden, berichtet Kuklew, der zu den Aktiven in der Bewegung der Tschernobyl-Veteranen gehört.

Um ihre Sozialhilfe müssen die einstigen Helden heute kämpfen. „Wir befinden uns in einem ständigen Kampf mit der russischen Regierung, die unsere Sozialunterstützung ständig kürzen will“, sagt Kuklew.Nach Angaben der „Tschernobyl Union Russland“ schuldet der russische Staat den Liquidatori Sozialhilfe-Beiträge in Höhe von umgerechnet 37 Millionen Euro.

Die russische Regierung wolle die Katastrophe und ihre Folgen aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängen, meint der Strahlenexperte. In den Krankenhäusern versuchten Ärzte andere Gründe für die Krankheiten der Aufräumer zu finden. Viele Daten über die Betroffenen seien zudem verloren gegangen. Heute leben die meisten verstreut über das gesamte Gebiet der ehemaligen Sowjetunion.

Freiwillig hat sich Kuklew damals zum Einsatz am Unglücksreaktor gemeldet. Er habe viele Ideen gehabt und sei voller Enthusiasmus gewesen. Als er dann am 3. Juni 1986, einen Monat nach der Reaktorexplosion, nach Pripjat in die Neubausiedlung für Tschernobyl-Arbeiter kam, empfing ihn drückende Stille. Die 49000 Einwohner der modernen Siedlung, die wie alle „Atom-Städte“ der Sowjetunion besonders gut versorgt wurde und deswegen als Wohnort begehrt war, waren Hals über Kopf geflohen. „Auf den Straßen standen leere Kinderwagen. Über den Mauern hingen teure Pelze und Teppiche. Man hörte keine Vögel mehr. Die Stille drückte auf die Seele“, erzählt Kuklew. Die radioaktive Wolke hatte die Siedlung verschont, aber einen angrenzenden Fichtenwald rot gefärbt. Er wurde später abgeholzt und entsorgt. Die Welt war auf den Kopf gestellt. „Als wir mit dem Hubschrauber über Pripjat flogen, jagten Herden von Hunden, Katzen, Ziegen, Pferden und Vögeln dem Schatten unseres Hubschraubers nach, alle Tiere zusammen.“ Sie hielten den Schatten wohl für ein menschliches Zeichen. „Es war, als ob sie die Arche Noah suchten. Die Sonne schien. Die Obstbäume hingen voll. In den Gärten wuchsen Erdbeeren.“ Trotz des Essverbots habe man dann doch zugegriffen. „Wir haben die Früchte gewaschen und dann gegessen.“

Als der Reaktor Nr. 4 in Tschernobyl explodierte, arbeitete Walentin Kuklew im zentralen Moskauer Institut für Atomtests. Vor seinem Tschernobyl-Einsatz dachte er, ihn könne nichts mehr schrecken. Immerhin hatte er schon die Atombombenversuche auf den sowjetischen Testgebieten in Semipalatinsk und Nowaja Semlja beobachtet. Für Tschernobyl meldete er sich freiwillig. „Ich hatte die Büroarbeit in Moskau satt.“ Doch als er dann im Juni 1986 in einem Hubschrauber das erste Mal über den geborstenen Reaktor flog, war Kuklew sprachlos. „Wir sahen ein riesiges himbeerfarbenes Auge. Es war das Auge des Todes. Dort unten kochte eine Glut von dreitausend Grad.“ Obwohl die Hubschrauber mit Bleiplatten geschützt waren, starben viele Piloten an radioaktiven Gasen.

Im Moskauer Institut für Atombombentests wollte man den Meldungen aus Tschernobyl zunächst nicht glauben. „Der Mann der nachts Bereitschaft hatte, entschied sich, die Meldung über die hohe Radioaktivität in Tschernobyl nicht weiterzugeben. Er glaubte es einfach nicht. Er dachte, die in Tschernobyl hätten falsch gemessen oder zu viel getrunken.“ Erst am nächsten Morgen bestätigte sich die Information. Ein Spezialflugzeug war über den Rektor geflogen und hatte die ungewöhnlich hohe Strahlung gemessen.

„Unsere Regierung hatte vor allem Angst, dass sich die radioaktive Wolke gen Westen bewegt und dort bemerkt wird.“ Doch den Flug der Wolke konnte die Regierung nicht aufhalten. Drei Tage nach der Katastrophe kamen aus Schweden die ersten Alarmmeldungen über radioaktive Verschmutzung.

Im AKW-Städtchen Pripjat leitete Kuklew ein Labor zur Strahlenmessung. Seine 150 Mitarbeiter suchten in der Zone um den Reaktor mit gepanzerten Militärtransportern nach Trümmerteilen. Durch die Explosion waren sie mehrere Hundert Meter weit geschleudert worden. „Wir hatten keine Dosimeter und keinen Mundschutz, nur weiße Arbeitskleidung. Es herrschte fast kindliche Unwissenheit und verbrecherische Desorganisation.“

Die Hilfsmittel wurden zudem falsch eingesetzt. Einmal habe er Verkehrspolizisten geraten, den schon fast schwarzen Mundschutz abzunehmen. Auf dem ehemals weißen Teil hatte sich sehr viel radioaktiver Staub gesammelt. „Das war lebensgefährlich.“ Die Radioaktivität machte allen schwer zu schaffen. „Wir waren sehr müde. Trotzdem schlief ich nachts nur drei Stunden.“ Die Luft war durch die Radioaktivität wie ein Magnet elektrisch aufgeladen. „Nase und Mund trockneten aus.“ 70 Prozent seiner Mitarbeiter aus dem Labor von Pripjat sind heute tot.

1988, nach zwei Jahren Einsatz, wurde Kuklew nach Hause geschickt. In einem Moskauer Spezialkrankenhaus bekam er eine Blutwäsche. Dann plagten ihn Depressionen. Er wollte sich umbringen, weil er miterlebt hatte, wie junge Soldaten auf dem Dach des Reaktorgebäudes beim Schippen von radioaktivem Schrott eingesetzt wurden. „Nach kurzer Zeit wurden sie als Verstrahlte nach Hause geschickt.“ Die eigenen Ideen, die Kuklew entwickelt hatte, habe er nicht verwirklichen können. Sein Enthusiasmus war vollständig verflogen. Er hatte den Glauben an sein Land verloren. Korrupte Beamte in Kiew und Moskau hätten die internationalen Hilfslieferungen geplündert und sich selbst die Taschen gefüllt. „Bei uns in Tschernobyl kam nichts an.“

veröffentlicht in: Sächsische Zeitung

Dieser Text wurde auch in russischer Sprache veröffentlicht

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