Die Wut in Kaliningrad
Von Ulrich Heyden, Kaliningrad
Im westlichsten Zipfel des Landes, in Kaliningrad, protestieren die BürgerInnen seit Monaten gegen die Politik des regierungstreuen Gouverneurs. Nur langsam stellen sich erste Erfolge ein.
Georgi Jermolajew schwenkt eine russische Fahne. Der Rentner hat die Trikolore mit Köpfen von Beamten und Spinnen beklebt. «Wir müssen Russ¬land von diesem Ungeziefer befreien», ruft Jermolajew, der sich mediengerecht in roter Jacke auf dem Obst- und Gemüsemarkt von Kaliningrad aufgestellt hat.
Der Fahnenschwinger steht inmitten von 2000 DemonstrantInnen, die sich am 20. März vor dem Haus der Räte zu einem Menschenauflauf versammelt haben und Mandarinen in die Höhe halten – eine Anspielung auf Georgi Boos, den Gouverneur der russischen Ostsee-Exklave, der im Internet wegen seines stattlichen Leibesumfangs auch abfällig «Mandarin» genannt wird.
Die Protestierenden rufen: «Boosa w atstavku! Putina w atstavku!» Die Forderung nach einem Rücktritt des Gouverneurs und des russischen Ministerpräsidenten ist inzwischen eine der Hauptparolen auf den Kundgebungen in Kaliningrad. Die Stimmung vor dem Haus der Räte ist ausgelassen.
Man fühlt sich mittlerweile stark. Die Polizei schreitet nicht ein, obwohl der Menschenauflauf nicht genehmigt ist. Die Opposition sollte ihre Kundgebung gegen die Erhöhung der Wohnnebenkosten und die Schliessung von Krankenhäusern in einem Stadion am Stadtrand abhalten, was von den AnführerInnen des Bürgerprotestes aber nicht akzeptiert wurde. So ist ein buntes Völkchen auf dem Marktplatz zusammengekommen: stämmige Männer mit ernsten Blicken, die bis zur Finanzkrise im Gebrauchtwagenimport ihr Geld verdienten, entlassene Angestellte, StudentInnen, die noch bei ihren Eltern leben und nicht wissen, wie sie ihr Studium finanzieren sollen, und wütende BikerInnen, die über steigende Motorradsteuern schimpfen.
In der Provinz ist es härter
Die Kette grosser Kundgebungen in Kaliningrad will nicht abreissen. Am 30. Januar demonstrierten 10 000 Menschen. Unter den TeilnehmerInnen waren auch Mitglieder verschiedener Parteien und Gruppen der parlamentarischen und ausserparlamentarischen Opposition – von Linken und Liberalen bis hin zu NationalistInnen. Am vergangenen Wochenende rief schliesslich die Kommunistische Partei zu einer Kundgebung auf, und 3000 Menschen kamen.
In der Hauptstadt Moskau werden keine Demonstrationen und nur selten Kundgebungen der ausserparlamentarischen Opposition erlaubt. In der Provinz dagegen dürfen die Menschen ein bisschen Dampf ablassen. Dort sind die Auswirkungen der Finanzkrise auch viel stärker zu spüren.
Gerade in Kaliningrad hat sich viel Wut angestaut. Manche TaxifahrerInnen wünschen sich Stalin zurück, und auf der Strasse hört man auch immer wieder die Ansicht, der aus Moskau stammende Gouverneur und seine Beamten würden sich bereichern und die Betriebe von Kaliningrad «ausrauben».
Die Bürgerproteste in der Ostsee-Exklave begannen, als Wladimir Putin Ende 2008 die Zölle für Gebrauchtwagen aus Europa drastisch erhöhte. Für die Stadt ein harter Schlag: Der Gebrauchtwagenmarkt, einer der grössten in Russland, war ein äusserst wichtiger Wirtschaftszweig. Nun sind Hunderte von AutohändlerInnen arbeitslos. Neue Arbeitsplätze sind nicht in Sicht, und in das russische Kernland überzusiedeln, um dort zu arbeiten, ist gar nicht so einfach – das Gebiet Kaliningrad ist komplett umschlossen von Litauen, Polen und Weissrussland.
Dunkle Stadt, helle Autobahn
Zu den steigenden Zöllen kamen die steigenden Wohnnebenkosten. Für eine Zweizimmerwohnung zahlt man in Kaliningrad aktuell bis zu 180 Franken (5000 Rubel) – bei Monatseinkommen zwischen 360 und 400 Franken.
Gouverneur Georgi Boos, der im Zentrum der Kritik steht, war 2005 von Putin in die Ostsee-Exklave geschickt worden. Er versprach viel: Er wollte Kaliningrad für den Tourismus erschliessen, einen Formel-1-Ring und ein Casino mit Hotels am Meer sowie ein Stahl- und ein Zeppelinwerk bauen. Der Flughafen Chrabrowo sollte zum internationalen Drehkreuz ausgebaut werden. Doch der Neubau blieb stecken. Die örtliche Fluggesellschaft KD Avia ging letztes Jahr bankrott. Ihr Chef, Sergej Grischenko, sitzt wegen nicht gezahlter Löhne in Untersuchungshaft.
Das einzige Grossprojekt, das Boos verwirklicht hat, ist eine vierzig Kilometer lange Autobahn vom Stadtzentrum an die Ostseeküste. Nachts wird die Strasse mit grossen Bogenlampen verschwenderisch beleuchtet. Ein merkwürdiger Luxus, denn viele Strassen von Kaliningrad liegen nachts im Dunkeln. Die Küstenautobahn ist ein Prestige¬objekt des Gouverneurs. Boos leitete in den neunziger Jahren in Moskau ein eigenes Unternehmen für Beleuchtungstechnik.
Wer ist dieser Gouverneur eigentlich, der die Emotionen in Kaliningrad hochkochen lässt? Georgi Boos wurde 1963 in Moskau geboren. Seine politische Karriere begann der Unternehmer Mitte der neunziger Jahre, als er in Moskau als Direktkandidat in die Staatsduma gewählt wurde. In den Krisenjahren 1998/99 gehörte er als Minis¬ter für das Steuerwesen acht Monate dem russischen Regierungskabinett an. Seine unternehmerischen Projekte als Beleuchtungsspezialist führten ihn damals an die Seite des Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow, der es chic fand, die öffentlichen Gebäude der Hauptstadt nachts hell zu erleuchten. Die Geschäftsverbindung paarte sich schnell mit politischer Sympathie. 1999 wurde Boos Wahlkampfmanager der von Luschkow gegründeten linkspatriotischen Partei Vaterland Ganz Russland. Das gefiel Putin nicht, weshalb er Boos in die westlichste Provinz des Landes schickte, um sich für das Vaterland zu bewähren, wie es der damalige Präsident ausdrückte.
Jeden Freitag eine Kundgebung
In jüngster Zeit muss sich Boos mit einer – für russische Verhältnis¬se – erstaunlich engagierten Opposition auseinandersetzen. Einer ihrer Köpfe ist Michail Tschesalin. Der 47-Jährige baute in Kaliningrad eine unabhängige Hafenarbeitergewerkschaft auf und leitet ausserdem die Ortsgruppe der Patrioten Russlands. Nicht nur die einfachen Leute würden die Krise jetzt so richtig spüren. Auch die sogenannte Mittelschicht, also Leute, die finanziell bisher ein gutes Auskommen hatten und sich politisch nicht engagierten, seien betroffen, meint Tschesalin. Ebenso schwer hätten es heute die KleinunternehmerInnen. «Man nimmt ihnen ihre Verkaufsbuden. Die Steuern werden erhöht, es gibt neue Anordnungen, Verträge werden verletzt, die Steuerbehörde macht Kontrollen.»
Auch die Schliessung des angesehenen Krankenhauses der Fischer sorgte in Kaliningrad für Protest. «Das Gebäude wurde nach der Stilllegung absichtlich zugrunde gerichtet», meint Ljudmilla Selinskaja von der liberalen Oppositionsgruppe Solidarnost. Sie teilt sich mit Tschesalin ein kleines Büro. «Unbekannte drehten die Wasserhähne auf und schlugen die Scheiben ein.» Die Oppositionelle mit den knallroten Haaren glaubt, dass das Gebäude, das in einem Stadtbezirk mit vielen alten deutschen Villen liegt, abgerissen werden sollte, um Platz für neue Villen zu schaffen.
«Wir machen jetzt schon unsere 65. Kundgebung vor der Gebietsverwaltung», berichtet Selinskaja nicht ohne Stolz. Zu den Kundgebungen, die jeden Freitag um 16 Uhr stattfinden, kommen neben den Krankenpflegerinnen und Ärzten auch Leute von der Vereinigung der Meereskapitäne, von den Patrioten Russlands, von Solidarnost und der Kommunistischen Partei sowie ganz normale BürgerInnen. Die Aktionen hatten Erfolg. Das Krankenhaus, welches zu verrotten drohte, hat jetzt neue Fenster bekommen. Handwerker setzen das Gebäude wieder instand. Es sind dies erste Schritte zur Wiederherstellung des Spitals, und auch wenn die endgültige Nutzung keineswegs gesichert ist, spricht Selinskaja von einem «ermutigenden Zeichen».
Eine weitere Schlüsselfigur der Opposition in Kaliningrad ist Konstantin Doroschok. Der ehemalige Autohändler hat finanziell schwer bluten müssen. Wegen der nachträglichen Erhöhung der Zollgebühren für den Import von Gebrauchtwagen hat er nach eigenen Angaben 18 Millionen Rubel (650 000 Franken) Schulden. Wie Hunderte andere Gebrauchtwagenhändler muss sich Doroschok, der eine Frau und drei Kinder hat, jetzt mit Gelegenheitsjobs durchschlagen.
Durch seine Reisen als Autohändler hat er Europa ziemlich gut kennengelernt und gesehen, wie man sich in anderen Ländern für seine Rechte einsetzt. Doroschok gründete die Organisation Gerechtigkeit. Diese organisierte die Grossdemonstration und meldete auch die Kundgebung für den 20. März an. Doch kurz zuvor machte der ehemalige Autohändler überraschend einen Rückzieher.
In der Kaliningrader Szenebar Sarja erläutert der Aktivist bei Loungemusik und einem Kaffee, warum: «Wir haben Hinweise aus seriösen Quellen bekommen, dass bei der Aktion am 20. März Provokationen vorbereitet werden und es Opfer geben könnte.» Doroschok nennt keine Namen, sagt aber, er habe auch mit «hohen Beamten» aus Moskau gesprochen. Und was für Provokationen seien geplant? «Zum Beispiel eine Schlägerei mit der Polizei, die von angeblichen Demonstranten ausgelöst wird.» Das russische Fernsehen hätte die Oppositionsführer¬Innen von Kaliningrad dann im ganzen Land als Unruhestifterinnen und Separatisten hingestellt.
Für Boos geht es um die Wurst
Doroschok wurde gekauft, meinen dagegen viele in der Opposition. Man habe ihm einen Teil seiner Zollschulden erlassen. Beweise gibt es aber nicht.
Tatsächlich setzte Gouverneur Boos nach der Grossdemonstration im Januar alles daran, die Opposition durch kleine Zugeständnisse zu zähmen. Er entliess die in einen Korruptionsskandal verwickelte Gesundheitsministerin des Gebiets, Jelena Kljujko. Der Gouverneur berief zudem ein ausserordentliches Beratungsgremium ein. Doroschok und andere Oppositionelle wurden zur Teilnahme eingeladen. Ausserdem veranstaltete der Gouverneur am 20. März – parallel zum Menschenauflauf auf dem Obst- und Gemüsemarkt – im örtlichen Fernsehen eine vierstündige, live übertragene Bürgerfragestunde, so wie das Putin auch zu tun pflegt. Für Boos geht es um die Wurst. Im September läuft seine Amtszeit aus, und der Gouverneur hat erklärt, dass er weitermachen will.
Wie aus Königsberg Kaliningrad wurde
Josef Stalin hatte auf der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 durchgesetzt, dass der «Vorposten des deutschen Militarismus», wie er Königsberg nannte, der Sowjetunion zugeschlagen wird. Ein Jahr später wurde die ehemals ostpreussische Stadt offiziell in Kaliningrad umbenannt. Nach der Aussiedlung von 100 000 Deutschen, die 1946 noch im Gebiet Kaliningrad lebten, wurden mehrere Hunderttausend Russen aus der Sowjetunion in der neu entstandenen Exklave angesiedelt. Heute leben in der Stadt etwa 420 000 EinwohnerInnen, in der ganzen Provinz sind es 920000.Die Stadt war während des Zweiten Weltkrieges bei einem britischen Luftangriff zu neunzig Prozent zerstört worden. Und obwohl nach 1945 nochmals viele deutsche Bauten als «Symbole des deutschen Militarismus» zerstört wurden, findet man zwischen den sowjetischen Plattenbauten noch Villen und Arbeiterhäuser aus der Vorkriegszeit. Das 1968 gesprengte Königsberger Schloss ist für die BewohnerInnen der Stadt am Fluss Pregel bis heute eines der wichtigsten Symbole geblieben: Auf Postkarten, Taschen und Aufklebern, überall springt einem das Schloss ins Auge.
Ein weiteres Symbol, wenn auch nicht so geliebt wie das Schloss, ist der Dom von Königsberg, der zum 750. Stadtjubiläum im Jahre 2005 wiederhergestellt wurde. Nicht weit davon entfernt liess Gouverneur Georgi Boos ausserdem eine Touristenmeile, das sogenannte Fischdorf, bauen, dessen spitzgiebelige Gebäude an die ehemaligen Speicherhäuser im Hafenquartier erinnern. Auch die russisch-orthodoxe Kirche hat sich zum Jubiläum ein Denkmal gesetzt. Am Siegesplatz wurde die Christi-Erlöser-Kathedrale gebaut, das mit 73 Metern höchste Gebäude der Stadt.
«Tag des Volkszorns»
Der Menschenauflauf in Kaliningrad am 20. März war Teil einer landesweiten Aktion unter dem Motto «Tag des Volkszorns». In über fünfzig Städten Russlands hatten Basisgruppen, linke und liberale Parteien, Kommunistinnen sowie Ökologen Protest¬aktionen organisiert. Neben Forderungen zu spezifischen regionalen Problemen richteten sich die Proteste gegen die Erhöhung der Wohnnebenkosten und der Motorfahrzeugsteuer. Auch der Rücktritt von Premier Wladimir Putin sowie von örtlichen BeamtInnen und Gouverneuren wurde gefordert.
Die grössten Kundgebungen mit 2000 bis 3000 TeilnehmerInnen gab es in Kaliningrad, Wladiwostok und Irkutsk. Eine Hauptforderung in Irkutsk war die Schliessung der Papierfabrik, die den Baikalsee verschmutzt. In St. Petersburg protestierten 1000 DemonstrantInnen gegen die Aufhebung von öffentlichen Parks und Spielplätzen zugunsten von Hochhausbauten der höheren Preisklasse. In Astrachan demonstrierten 500 Menschen ihre Solidarität mit einem Hungerstreik gegen die örtliche Mafia. Am Hungerstreik beteiligten sich Parlamentsabgeordnete verschiedener Fraktionen. In Moskau wurden auf einer nicht genehmigten Kundgebung mit 500 TeilnehmerInnen 50 Personen von der Polizei verhaftet.
"Die Wochenzeitung" (Zürich)