9. January 2021

Die zweite Dosis (der Freitag)

Pavel Korolyov/AFP/Getty Images
Foto: Pavel Korolyov/AFP/Getty Images

Russland - Eine Zeitung berichtet von Problemen bei der zweiten Impfung mit Sputnik V, die Produktion kommt dem Bedarf nicht hinterher

Ulrich Heyden Ausgabe 01/2021

Moskau ist Corona-Hotspot, hier wird trotz des Jolkafestes in den ersten beiden Januarwochen ununterbrochen geimpft – in 70 Impfzentren und kostenlos. Bevorzugt versorgt werden Risikogruppen wie Lehrer, Polizisten, Ärzte, Krankenpfleger, Journalisten und Menschen über 60. Einer der geimpften Reporter erzählt vom Prozedere, man müsse einen Fragebogen ausfüllen, in dem unter anderem anzugeben sei, ob es chronische Krankheiten gäbe. „Nach dem Impfen muss man eine halbe Stunde warten und wird von medizinischem Personal beobachtet.“ Es folge die Entlassung mit einem Zertifikat, in dem angegeben sei, wann die zweite Impfung mit dem Sputnik-V-Impfstoff fällig sei.

Das Meinungsforscher des Instituts WZIOM haben ermittelt, dass die Impfbereitschaft bei Menschen über 60 mit 49 Prozent relativ hoch, insgesamt aber niedrig sei. Nur 38 Prozent der Russen wollten sich impfen zu lassen. Da müsse noch Überzeugungsarbeit geleistet werden, meint der Soziologe Viktor Poturemski. In Moskau mit seinen zwölf Millionen Einwohnern (ohne die Hunderttausende von nicht legalen Arbeitsmigranten) waren bis zum 29. Dezember erst 50.000 Menschen geimpft, und das, obwohl die zweite Corona-Welle zu höheren Infektionszahlen führt als die erste im Frühjahr. Trotzdem hat sich die Stadtverwaltung gegen einen Lockdown entschieden. Man verfüge jetzt über das nötige Wissen und Instrumentarium, um die Pandemie auch so zu bekämpfen, meint Bürgermeister Sergej Sobjanin. Weniger überzeugt klingt Russlands Vizeministerpräsidentin Tatjana Golikowa, als sie bekannt gibt, dass bisher in der gesamten Föderation gut 70.000 Menschen am Coronavirus gestorben seien, weitere 45.000 mit positivem Test an anderen Krankheiten, deshalb sollten die Bürger mit einer Immunisierung nicht warten, sondern eine der mittlerweile 1.200 Einrichtungen landesweit aufsuchen.

Der Aufruf ist auch eine Reaktion auf Impfgegner, die versuchen, sich über das Internet Gehör zu verschaffen. Am 29. Dezember wurde eine „Assoziation unabhängiger Ärzte“ bei Anna Popowa vorstellig, der Vorsitzenden der Verbraucherschutzorganisation Rospotrebnadsor, die Hygienemaßnahmen mit zu verantworten hat. Etwa hundert Personen störten sich an einer „Massenpanik“ und dem „Maskenregime“, womit sich Präsidenten Putin einem „international erzwungenen Szenarium“ anpasse. 95 Prozent der Bevölkerung seien „längst immun“ und die Vakzine von Sputnik V „nicht ausreichend getestet“.

Nur in der Light-Version?

Kritisiert wird auch, dass Arbeitnehmer von ihren Firmen gezwungen werden, sich impfen zu lassen. Dass es tatsächlich zu Zwangsmaßnahmen gekommen ist, bestätigt indirekt Duma-Vizepräsident Pjotr Tolstoi. „Drohungen von Vorgesetzten, man dürfe nur geimpft an seinen Arbeitsplatz, sind ungesetzlich. Wir leben im 21. Jahrhundert. Impfungen ohne Einverständnis kann es nicht geben.“

In Russland arbeiten Wissenschaftler derzeit an 47 Impfstoffen gegen Covid-19, neben Sputnik V vom Moskauer Forschungszentrum Gamalei gilt EpiVakCorona vom Institut Vektor in Nowosibirsk als eines der aussichtsreichen Vakzine, bei denen die klinische Testphase abgeschlossen ist, die jedoch bei Menschen mit schweren Allergien, bei Schwangeren und stillenden Müttern nicht verabreicht werden sollen.

Alexander Ginsburg, der Leiter des Gamalei-Zentrums, das Sputnik V hervorbrachte, erklärte Ende Dezember, bei den 30.000 Probanden, die sich während der Testphase freiwillig mit diesem Stoff impfen ließen, habe es weder mittlere noch schwere Komplikationen gegeben, niemand sei ins Krankenhaus eingeliefert worden. Wie dagegen die Regierungszeitung Rossijskaja gaseta berichtet, gibt es bei der zweiten Impfdosis von Sputnik V Probleme. Die Produzenten des Serums würden das bisher „weder kommentieren noch dementieren“. Alexander Ginsburg habe die Probleme freilich indirekt bestätigt, indem er erklärte, möglicherweise werde man Sputnik V nur in einer Light-Version verabreichen. Das könne bedeuten, unter Umständen auf die zweite Dosis zu verzichten, doch ändere das nichts an der Annahme, dass dieser Impfstoff einen Schutz von bis zu zwei Jahren sichert. Grundsätzlich bleibe es bei der Vorgabe, dieses Medikament in zwei Phasen einzusetzen, drei Wochen nach der ersten eine zweite Impfung vorzunehmen, um die Wirkung „zu festigen“.

Was die Versorgung im Inland natürlich tangiert, das ist die beabsichtigte Vermarktung von Sputnik V im Ausland. Mexiko hat bereits 32 Millionen Sputnik-V-Impfdosen bestellt, Brasilien 50 Millionen und Indien 100 Millionen. Über eine Lizenzvergabe sollen diese Länder das Vakzin auch selbst herstellen können, weil die Produktionskapazitäten in Russland vorläufig noch begrenzt sind. Allein drei Fabriken der Unternehmen Binnofarm, R-Farm und Generium stehen für Sputnik V zur Verfügung. Ungeachtet dessen rechnet Industrieminister Denis Manturow für Februar mit dem Ausstoß von 15 Millionen Impfeinheiten. Ob dieses Ziel tatsächlich erreicht wird, erscheint nicht gesichert. Bekannt ist, dass es bei Testproduktionen in einigen Fällen Beanstandungen des Auftraggebers, des Moskauer Gamalei-Zentrums, gegeben hat. Für die Vorbereitung einer Medikamentenproduktion in dieser Dimension brauche man normalerweise ein Jahr, befinden Experten, jetzt aber müsse „alles in Monaten, ja Wochen“ passieren.

Es kommt hinzu, dass in Russland die Herstellung von Medikamenten zu 80 Prozent von einer Rohstoffzufuhr aus dem Ausland abhängig ist. Derzeit haben Indien und China den Export von pharmazeutischen Substanzen wegen Eigenbedarf zurückgefahren. Vermutlich ein Grund dafür, dass sich die Regierung im Dezember entschlossen hat, mit der schwedisch-britischen Firma AstraZeneca gemeinsam einen Anti-Corona-Impfstoff entwickeln zu wollen. Ende Dezember 2020 wurde bei einer Videokonferenz, an der Präsident Putin und AstraZeneca-Chef Pascal Soriot teilnahmen, ein Memorandum über die angestrebte Kooperation unterschrieben.

Ulrich Heyden

veröffentlicht in: der Freitag

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