Ein Kuss für den Panzer
In Dresden möchte die Stadtverwaltung das Denkmal für sowjetische Soldaten, welche die Stadt von der Nazi-Herrschaft befreiten, "neugestalten", offenbar eine Maßnahme, mit der die Rolle der Sowjetunion bei der Befreiung Deutschlands heruntergespielt werden soll. Die mit der Neugestaltung beauftragte Künstlerin Svea Duwe erklärte bei der Vorstellung ihrer Installation: „Das Sowjetische Ehrenmal muss aus heutiger Sicht nicht nur in Bezug auf seinen baulichen Zustand, sondern auch inhaltlich ‚saniert‘ werden.“ Die Absicht der Neugestaltung ist für mich der Grund an dieser Stelle mein 2005 in der "Sächsischen Zeitung" veröffentlichtes Porträt eines sowjetischen Panzersoldaten, der an der Befreiung von Dresden beteiligt war, zu veröffentlichen. Das Porträt wurde nachgedruckt in meinem Buch "Wer hat uns 1945 befreit?" (Verlag tredition, Hamburg 2020).
Nikolaj Borisow erlebte die letzten Kriegstage in Dresden.
Das Haus von Nikolaj Borisow erreicht man durch einen zerfallenen Metallzaun. Weiter geht es über einen matschigen Weg zu einem 16geschossigen Plattenbau. Die Haustür steht immer offen. Das Treppenhaus ist unbeleuchtet, normale Zustände für russische Wohnsiedlungen. Der 81jährige Kriegsveteran lebt in Naro-Fominsk, einer Kleinstadt südwestlich von Moskau.
Der Oberst a.D. kämpfte im "Großen Vaterländischen Krieg" als Panzerkommandeur in der Kantemirow-Division. In der Siedlung leben aktive Militärs und Veteranen. Von Borisows Haus sind es nur ein paar Schritte zum Tor der legendären Division, welche im Sommer 1942 vom Don über die Karpaten, Breslau und Dresden bis nach Prag vorstieß. Vor dem Eingang des Hauptquartiers stehen drei alte Panzer auf einem Podest. Drei Soldaten in klobigen Stiefeln kontrollieren den Eingang.
Als Borisow mit seinem T-34-Panzer am 6. Mai 1945 durch die nördlichen Stadtbezirke von Dresden rasselte, wunderte sich der junge Leutnant. "Es herrschte eine solche Ordnung, dass man hätte denken können, es habe keinen Krieg gegeben. Wir sahen reiche Häuser, gepflegte Straßen und Zäune. In den Gärten gab es Blumen. Es war nichts zerstört." Die Vorgesetzten hatten erzählt, die Luftwaffe der Verbündenten habe die Stadt zerstört. Doch Trümmer sah Borisow nicht. Marschall Pawel Polubojarow, der Kommandeur der Kantemirow-Panzerdivision, hatte befohlen, nicht ins "Stadtzentrum zu fahren. In dem unübersichtlichen Trümmergelände fürchtete er den Beschuss mit dem "Faustpatron" - der Panzerfaust.
Die 4. Gardepanzerarmee war schon stark dezimiert. Weitere Verluste wollten man nicht riskieren. Von 207 Panzern existierten nur noch 65. Die Deutschen hätten "bis zum Schluss gekämpft", erzählt Borisow.
Der hagere 81jährige mit dem kantigen Gesicht wählt seine Worte mit Bedacht. Er hat keinen Hass gegen die Deutschen. "Jetzt gibt es eine neue Generation in Deutschland. Die Beziehungen sind andere geworden". Direkten Fragen aber weicht er oft aus. Und im Schlaf? Ja, erzählt er, da kommen die Erinnerungen oft in ihrer ganzen Grausamkeit wieder hoch. "Wir säuberten die Außenbezirke der Stadt. Menschen sahen wir nicht auf den Straßen. Einige haben sich ergeben. Wer Widerstand leistete, wurde erschossen. Wir hatten keine Zeit, Gefangene zu machen. Wir waren ein Stoßtrupp."
Zwei Tage nach der Ankunft der Division in der Elbmetropole leisteten die Deutschen keinen Widerstand mehr. Nun ging es weiter Richtung Prag. Auf dem Weg dorthin hörten die Soldaten die Nachricht von der Kapitulation. "Aus Freude wurden die Magazine der Maschinenpistolen leergeschossen." Borisow plagten Läuse und Furunkel. Die fünf Mann Besatzung des Panzers schliefen in ihrer Stahlwanne meist im Sitzen. Nur die Ernährung war gut. Die Versorgungstruppen bedienten sich in deutschen Lebensmittellagern und schlachteten die Kühe und Schweine, die sie fanden.
Die erste Schlacht erlebte Borisow im Dezember 1943 in der Nähe der Stadt Berditschew, südlich von Kiew. Er saß in einem nagelneuen Panzer, den er selbst in einer Fabrik abgeholt hatte. Die Verluste auf den dann folgenden 1 100 Kilometern Richtung Dresden waren hoch. Der alte Mann rechnet vor: Sechs Panzer brannten ihm aus. Dafür - erklärt er mit stolzem Blick - habe er aber zehn deutsche Panzer zerstört. Deutsche Militärhistoriker machen die Gegenrechung auf. Deutschland habe bei der sowjetischen Massenproduktion von Panzern nicht mithalten können. Allein von dem im Jahre 1942 entwickelten Modell T 34 wurden 14 000 Stück gebaut.
Doch der Sieg der Russen gilt nicht nur als Ergebnis der leistungsfähigen Rüstungsindustrie. Der Großteil Soldaten kämpfte aus Überzeugung. Sechsmal musste Borisow mit seinen Männern aus der brennenden, 30 Tonnen schweren Stahlwanne springen. Einmal - im April 1944 - hing das Leben des jungen Soldaten am seidenen Faden. Als er im westukrainischen Iwano-Frankowsk-Gebiet aus einem brennenden Panzer springen musste, wurde er von einer Granate getroffen. Mit Erfolg verweigerte der junge Soldat eine Beinamputation.
Nach fünf Monaten saß Borisow wieder als Kommandeur in einem Stahlross. Vor Kattowitz, im oberschlesischen Industriegebiet, traf Borisow das erste Mal auf KZ-Häftlinge. "Wir standen mit unseren Panzern am Stadtrand. Plötzlich hörten wir so ein ungewöhnliches Geräusch, so ein Heulen. Dann sahen wir, wie eine Menschenmenge auf uns zukam, mehrere Tausend Menschen aus einem KZ. Sie haben sich gefreut. Wir waren die ersten Befreier, die sie sahen. Sie umringten uns, küssten uns und die Panzer. Sie wollten einfach nicht weggehen." Weil man die Menschen weder durch Worte noch Gewalt zur Vernunft bringen konnte, befahl der Kommandeur, einen Warnschuss abzugeben. "Viele fielen vor Angst um. Dann herrschte Stille. Wir haben ihnen gesagt, geht in die Richtung, aus der wir kommen. Wir müssen unsere Aufgabe erfüllen und die Stadt befreien."
"Rotfront! Hitler kaputt!"
Vieles hat Borisow vergessen. Doch einige Schlüsselmomente haben sich tief eingeprägt. So die erste Begegnung mit deutschen Zivilisten. Das war in einem Dorf fünfzig Kilometer vor Breslau. "An einem Haus hing eine weiße Fahne. Im Keller fanden wir etwa 30 Frauen und Kinder. Sie hatten sich in Tücher eingewickelt und guckten verängstigt. Plötzlich hörte ich eine Männerstimme. "Rotfront! Hitler kaputt!". Ein gebückter Mann, etwa 60 Jahre alt, trat aus dem Dunkel. "Er redete von Thälmann. Und er hatte eine rote Fahne." Nikolajs Frau Vera, die bisher geschwiegen hat, unterbricht die Erzählung. "Woher hatte er eine rote Fahne, in dieser Zeit?" Aber Nikolaj lässt sich nicht beirren. "Wir fragten ihn, ob es im Ort deutsche Soldaten gibt. Er sagte, die seien am Morgen abgezogen. Wir sagten den Leuten, sie sollen aus dem Keller kommen, wir würden niemandem etwas tun. Die Leute reagierten nicht. Doch am nächsten Morgen, als wir abfuhren, sahen wir an allen Häusern weiße Fahnen."
Vergewaltigungen haben es in seiner Einheit nicht gegeben. In anderen Einheiten aber gab es solche "Vorfälle". Wer eine Frau vergewaltigt habe, habe mit einem halben Jahr Strafbataillon rechnen müssen. "Die Soldaten vergewaltigten, wenn sie mit den Nerven fertig waren", meint Borisow. Rachegefühle gab es bei den Soldaten angeblich nicht. So etwas sei dem russischen Volk fremd. So etwas gäbe es nur im Kaukasus.
Die Versuchung zu plündern war groß. Die Rotarmisten - die meisten kamen aus einfachen Verhältnissen - wollten wissen, wie die Deutschen "so leben". Man inspizierte Häuser und Wohnungen. "Im Schrank hing alles griffbereit. Die Gedanken begannen zu wandern. Da hatte man schon Neid. Obwohl, das war nicht das Wichtigste. Was hätte ich denn mit den Sachen machen sollen? Um Pakete nach Hause zu schicken, hatte ich keine Zeit. Ich war Kommandeur."
Mit seinem Leben ist der Oberst a.D. zufrieden. Er bekommt 8 000 Rubel - umgerechnet 220 Euro - Rente, seine Frau Vera bekommt 2 500 Rubel. Am 9. Mai, dem "Tag des Sieges", wird Nikolai Borisow wie jedes Jahr mit anderen Veteranen feiern. Dann trägt er wie immer zu solchen Anlässen seine grüne Paradejacke voller runder, goldener Orden. Und wie jedes Jahr werden ihm Mädchen aus der Stadt Blumen schenken.
veröffentlicht in: Sächsische Zeitung, 6. Mai 2005