13. October 2010

Ein paar Usbeken, ein paar Tataren

Ohne Gastarbeiter aus Zentralasien und aus dem Kaukasus würde in Moskau nur halb so viel gebaut. Um die Integration der muslimischen Arbeitsnomaden kümmert sich niemand Achludi kommt aus Duschanbe, der Hauptstadt Tadschikistans, und hat sich als studierter Jurist in Moskau empor gearbeitet. Vor elf Jahren begann er, mit Hosen und Jacken auf dem Tscherkisowski-Rynok, dem größten Freiluftmarkt Moskaus, zu handeln. Danach führte er ein Café – seit der Finanzkrise unterhält ihn ein kleines Lebensmittelgeschäft. Trotz dieser Auf- und Abstiege gehört Achludi – im Unterschied zu vielen Landsleuten auf den Baustellen der Kapitale – zur gehobenen Schicht der Migranten. Der 31-Jährige geht jeden Freitag zum Gebet vor der Zentralen Moschee am Prospekt Mira und lebt mit einer russischen Frau zusammen. Die sei zum Islam übergetreten, versichert er stolz. Und zwei Söhne, von denen der Älteste eine gute Moskauer Schule besuche, habe er auch. „Dort lernt der Junge Französisch und Englisch“, erklärt Achludi mit bedeutungsschwerer Stimme.
Vor der erwähnten Moschee in der Innenstadt beten jeden Freitag Tausende unter freiem Himmel. Im Inneren des 1904 gebauten türkis-blauen Gotteshauses bleibt längst kein Platz mehr. Die islamische Gemeinde wächst durch den Zuzug von Gastarbeitern aus Zentralasien und Aserbaidschan unablässig, aber Grundstücke für den Bau neuer Gebetsstätten gibt die Stadtverwaltung nicht her. So steigt die Zahl der Moskauer Muslime, die unter freiem Himmel Andacht halten, von Jahr zu Jahr. Am 9. September, als das Ende des Fastenmonats zu feiern war, sammelten sich vor der Moschee 60.000 Gläubige, vorzugsweise Männer. Die Bilder kursierten im Internet und lösten bei alteingesessenen Moskauern Erstaunen oder Erschrecken aus. Sonst bleibt der Islam für die Stadt unsichtbar.
Winter wie Sommer
Der Tadschike Achludi hat sich vom fliegenden Händler für zehn Rubel ein zum Quadrat gefaltetes Tapetenstück mit Brokat-Muster gekauft, um daraus einen provisorischen Gebetsteppich zu zaubern. Seine Schuhe legt er neben – das Handy direkt vor sich. Aus den Lautsprechern schallt eine ruhige Stimme über den Vorplatz. Der Imam ruft zur Demut vor Allah und zum Leben ohne Makel. Alle sollten tolerant gegenüber Nicht-Muslimen sein, predigt er auf Russisch und Tatarisch, um beim Gebet ins Arabische zu fallen. Kaum ist das verklungen, öffnen die Händler Töpfe mit dampfenden Chalal-Teigtaschen. Die Piroggen mit dem auf islamische Art geschlachteten Fleisch finden reißenden Absatz, auch bei Achludi.
Ildar Aljautdinow ist einer von sechs Imamen in der Zentralen Moschee und beklagt, die Gastarbeiter seien „heimatlose Leute“, von der russischen Regierung ihrem Schicksal überlassen. Auch die Botschaften der Heimatländer kümmerten sich wenig. Die muslimische Geistlichkeit habe an die Moskauer Stadtregierung appelliert, sich um Integration der Migranten zu sorgen und Sprachunterricht anzubieten. Niemand habe reagiert. Dass es unter den Zugewanderten Kriminelle gäbe, wolle er nicht bestreiten. „Sie kommen aus keinem guten Leben. Sind hungrig und werden oft um ihren Arbeitslohn betrogen. Kein Wunder, dass sie Handys stehlen. Wenn sich die russische Obrigkeit nicht mehr um die Leute kümmert, kann es gefährlich werden.“
Jahrelang sei in den Zeitungen nur Abstoßendes über den Islam verbreitet worden. „Für unsere Frauen ist es gefährlich, mit dem Kopftuch auf der Straße zu gehen.“ Aljautdinow kommt aus Tatarstan wie die meisten muslimischen Prediger hier und scheint über massenhaften Zuzug seiner Glaubensbrüder ebenso wenig begeistert wie Moskaus Mehrheitsbevölkerung. Zwar denken russische Bauarbeiter nicht im Traum daran, für 400 Euro pro Monat Winter wie Sommer an Hochhäusern zu bauen. Trotzdem werden die Arbeitsnomaden als Belastung – zuweilen Bedrohung – empfunden. Nach einer 2006 von Meinungsforschern des Lewada-Instituts veranstalteten Umfragen wünschen 54 Prozent der Russen, die Regierung möge den Migranten-Strom eindämmen. Es gilt die Parole Russland den Russen.
Migrationsforscher Sergej Abaschin bestreitet, dass in Moskau eine ausgesprochen anti-islamische Stimmung herrsche. Eher seien es Ressentiments gegen Migranten. Der Wissenschaftler arbeitet in dem mit Kunstgold verzierten Hochhaus der Russischen Akademie der Wissenschaften direkt an der Moskwa. Es gäbe eine lange Tradition der Symbiose von Russen und Tataren, meint Abaschin. Letztere hätten es immer schon bis in höchste Staatsämter gebracht. In der Regierung Putin säßen zwei Tataren – Innenminister Raschid Nurgalijew und Elvira Nabiullina, die Ministerin für Wirtschaftsentwicklung. Zemfira, eine bekannte Rock-Sängerinnen, sei ebenfalls Tatarin. Vagit Alekperow, der Präsident des Öl-Giganten Lukoil, komme aus Aserbaidschan, auch wenn er als russischer Unternehmer auftrete.
Verschlankte Prozeduren
Statt einer Statistik der Migrationsbehörde über die Zahl der Gastarbeiter in Russland gibt es Schätzungen: 15 Millionen, seien es, davon vier Millionen ohne Arbeitserlaubnis und demzufolge illegal.
Für Bürger ehemaliger Sowjet-Republiken – ausgenommen Georgien und die baltischen Staaten – gibt es in Russland keine Visapflicht. Wenn jedoch Arbeitssuchende aus Baku oder Jerewan auf dem Kasaner Bahnhof ankommen, beginnt der Spießrutenlauf. Überall patrouillieren Polizisten, um Ankommende zu kontrollieren. Wer weiter will, legt still einen Geldschein in seinen Pass. Es folgt der Kauf einer gefälschten Aufenthaltsgenehmigung für drei Monate und zum Preis von 3.000 Rubel (75 Euro). Eine legale Arbeitsgenehmigung für ein Jahr kostet im Schnitt 14.000 Rubel (350 Euro).
Die Regierung denkt nicht daran, diesen Strom aufzuhalten. Im Gegenteil. Um zu verhindern, dass Gastarbeiter aus Zentralasien, in andere Länder abwandern, hat sie die Prozeduren bei der Arbeitsgenehmigung verschlankt. Jeder Gastarbeiter kann jetzt für 1.000 Rubel (25 Euro) im Monat bei der Migrationsbehörde ein „Arbeitspatent“ kaufen, das es ermöglicht, legal bei Privatpersonen als Haushaltshilfe oder Handwerker zu arbeiten.
Russische Unternehmer wollen auf die Nomaden aus Zentralasien keineswegs verzichten. Einer der Gründe, warum der Kreml bisher Kampagnen von Nationalisten gegen Migranten und Muslime kategorisch unterbindet. Ein weiterer ergibt sich aus dem Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung. Politiker, die latenten Anti-Islamismus in der Bevölkerung schüren, handeln staatsgefährdend, denn von 142 Millionen Einwohnern der Russischen Föderation sind 16 Millionen Muslime, die in den Teilrepubliken an der Wolga und im Nordkaukasus leben. Kein Wunder, dass der Nationalist Dmitri Rogosin, der 2005 im Wahlkampf für das Moskauer Stadtparlament einen ausländerfeindlichen Fernsehspot mit dem Slogan Säubern wir Moskau vom Unrat senden ließ, auf Druck des Kreml seinen Posten als Vorsitzender des Heimat-Wahlblocks räumen musste. Nach einer Schonfrist von zwei Jahren wurde Rogosin dann zum NATO-Botschafter in Brüssel ernannt.
Mitte September, auf dem Kongress des Gewerkschaftsverbandes FNPR, verkündete der seinerzeit noch nicht geschasste Moskauer Bürgermeister Lushkow, die Migranten seien in seiner Stadt „für 50 Prozent der Verbrechen verantwortlich“. Die Öffentlichkeit nahm dies widerspruchslos hin. Auch in Massenblättern wie der Komsomolskaja Prawda steht nichts anderes. Marodierende Hammel
Rifat Juldoschew von der Nichtregierungsorganisation Migration und Gesetz bestreitet, dass die Kriminalität bei Gastarbeitern über dem Durchschnitt liegt. Aber NGO-Freak Juldoschew wird von den großen Zeitungen nicht befragt. Ausgerechnet am 11. September veranstaltete der Verein Mein Hof, ein Platzhalter aus dem nationalistischen Milieu, ein Protest-Meeting gegen den Bau einer Moschee im südöstlichen Bezirk Tekstiltschiki. Dort beschworen die meist glatzköpfigen Sprecher, was eine solcher Gebetsort nach sich ziehen werde: Frömmelnde Imame, die mit Terroristen paktieren, und marodierende Hammel, die auf den Grünfläche im Bezirk ihr Futter suchen. Auch mit toten Hunden sei zu rechnen, weil Hunde für Muslime unreine Tiere seien. Als ein älterer Tatare mit einem schwarzen Käppchen versucht, Argumente der muslimischen Gemeinde vorzutragen, wird er niedergeschrien. Erst als eine blonde Russin mittleren Alters mit lauter Stimme erklärt, den Bewohnern von Tekstiltschiki gehe es doch nur um ihre Erholungsgebiete – mit antiislamischer Empathie habe dieses Meeting nichts zu tun, werden die Hetzer still.
Der erwähnte Rifat Juldoschew von der NGO Migration und Gesetz hat täglich, manchmal stündlich, mit Sorgen der Gastarbeiter zu tun. Manche hätten ein wahres Martyrium zu ertragen, erzählt er. „Es gibt Sklaverei, Schläge und Folter durch die Arbeitgeber.“ Das größte Problem sei jedoch, dass Löhne nicht gezahlt würden. Wer als Unternehmer in Russland zwei Monate lang keinen Rubel herausreicht, der macht sich noch nicht strafbar. So ist das Gesetz. Trotzdem, so Rifat, schreibe man Briefe und habe manchmal Erfolg. „Manche zahlen dann, weil sie keinen weiteren Ärger wollen.“
Die meisten Firmen sind längst dazu übergegangen, die Bezüge der Gastarbeiter über Arbeitsvermittler auszahlen zu lassen. Diese Praxis gibt es zum Beispiel bei der auftrumpfenden Supermarktkette Perekrjostok oder der Reinigungsfirma Montex-Service. „Montex hat in Moskau 600 Objekte, Büros und Läden. Pro Objekt rechnet man zehn Reinigungskräfte“, sagt Juldoschew. Gerade bearbeite er den Fall eines Aserbaidschaners, der seinen Lohn für die Arbeit bei einer Filiale von Perekrjostok nicht erhalten habe. Den Betrag müsse ihm der Arbeits-Vermittler „Andrej“ auszahlen, den Familiennamen von „Andrej“ freilich kennt der Gastarbeiter nicht. „Für die Unternehmen“ – so Juldoschew – „ist es praktisch, wenn bei den Löhnen die Vermittler ins Spiel kommen.“ Die nutzten das mangelhafte Russisch der Nomaden und deren Hilflosigkeit in einer fremden Umgebung.
Ob der russische Staat den Markt für Schwarzarbeiter, wie es ihn seit 20 Jahren gibt, jemals eindämmen wird, erscheint zweifelhaft. Es gibt einfach zu viele Profiteure: Polizisten, Vermittler, Vermieter, Unternehmer oder einfache Bürger, die sich daran gewöhnt haben, für die Renovierung der eigenen Wohnung – Islamfeindlichkeit hin oder her – ein paar Usbeken zu nehmen.
Hintergrund
Ulrich Heyden schreibt seit 1994 für den Freitag aus und über Russland
erschienen in: "der Freitag"
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