Eine wenig überraschende Katastrophe
Von Ulrich Heyden, SZ-Korrespondent in Moskau
Beim Untergang des Wolga-Ausflugschiffes „Bulgaria“ sterben mehr als 110 Menschen. Bei den Ermittlungen kommen schwere Pannen ans Licht.
Es sollte eine schöne Ausflugsfahrt für Familien werden, die am Sonntag aber in einer Katastrophe endete. Bei einem Wendemanöver schlugen Wellen über das Deck der „Bulgaria“. Das mit 208 Passagieren völlig überladene Schiff kenterte innerhalb von drei Minuten. Besonders tragisch ist, dass zwei Frachter die Unglücksstelle passierten, ohne den Verunglückten zu helfen.
Erst danach wurden 80 Passagiere der gesunkenen „Bulgaria“ von dem vorbeifahrenden Passagierschiff „Arabella“ gerettet und nach Kasan gebracht, die Hauptstadt der russischen Teilrepublik Tatarstan. Für 110 Menschen kam dagegen jede Hilfe zu spät. Nicht nur, weil es offenbar keine SOS-Signale gab, herrschte in Russland nach der größten Schiffskatastrophe seit mehr als 20 Jahren neben Trauer auch große Wut .
Derzeit liegt die „Bulgaria“ in zwanzig Meter Tiefe auf dem Boden des Kujbyschewski-Stausees. Er ist mit 40 Kilometern Breite der größte Stausee der Wolga. Bis zum Montagnachmittag suchten Taucher bereits zwei Drittel der Innenräume des Schiffes ab. Experten wollten nicht ausschließen, dass sich in einer Luftblase unter Wasser noch Überlebende befinden. Diese Hoffnung galt vor allem für den Musik-Saal. Dort befanden sich zum Zeitpunkt des Unglücks 50 Kinder, die dort zu einer Musikstunde zusammengekommen waren. Experten gehen aber davon aus, dass sehr wahrscheinlich alle ertrunken sind.
Dennoch ordnete Russlands Präsident Dmitri Medwedjew an, „bis zum Schluss“ nach Opfern zu suchen. Es bestehe zwar nur wenig Hoffnung noch Überlebende zu finden, die weitere Suche sei aber aus „moralischen Gründen“ wichtig. Der russische Präsident befürwortete den Plan, das Schiff zu heben. Zurzeit sind zwei Hebekräne zur Unglücksstelle unterwegs. Sie sollen in sechs Tagen an der Unglücksstelle eintreffen. Für heute ordnete der russische Präsident einen Trauertag an. Medwedjew ordnete außerdem die Untersuchung aller russischen Passagierschiffe an. Denn eine „übermäßige Zahl“ russischer Passagierschiffe sei „sehr alt“ und müsste modernisiert oder stillgelegt werden. Angesichts der Bilder aus Kasan sprach der russische Ministerpräsident Wladimir Putin von einer „großen Tragödie“.
Motor kaputt, Lage schief
Es muss schon schlimm kommen, dass russische Väter laut heulen. Der russische Fernsehkanal „Russia today“ übertrug herzzerreißende Szenen aus dem Hafen von Kasan, wo Überlebende des Schiffs-Unglücks von ihren Angehörigen empfangen wurden. Ein Vater rief immer wieder, „mein Kind blieb dort, mein Kind blieb dort.“ Andere Überlebende des Unglücks schilderten, wie sie mit den Händen ihre Familienangehörigen von dem sinkenden Schiff zu retten versuchten, doch scheiterten.
Die 1955 in der Tschechoslowakei gebaute „Bulgaria“ fuhr ohne Lizenz für den Personenverkehr, hatte nach Ermittlerangaben auch einen kaputten Motor und lag schon beim Ablegen schief im Wasser. Zudem war sie mit mehr als 200 Menschen an Bord völlig überladen. Der Kapitän, der vermisst wird, ignorierte zudem die Ankündigung eines schweren Unwetters und ließ nur lückenhafte Passagierlisten führen.
Auch wenn die russische Öffentlichkeit tief geschockt ist – das Unglück kommt nicht völlig überraschend. In Russland kommt es fast jedes Jahr vor allem im Sommer zu Katastrophen – fast immer wurden dabei elementarste Sicherheitsvorkehrungen nicht eingehalten. Zuletzt im Vorjahr, als dadurch die verheerenden Waldbrände ausgelöst wurden.
Noch gut in Erinnerung ist auch der Brand im Restaurant zum „Lahmen Pferd“. Das ging im Dezember 2009 in Flammen auf, nachdem ein Zimmerfeuerwerk entzündet wurde. Bei dem Brand, der dadurch entstand, starben 156 Menschen. Damals waren die Aufsichtsbehörden geschmiert worden, um bei den Sicherheitsbestimmungen ein Auge zuzudrücken. (mit dpa)
veröffentlicht in: Sächsische Zeitung