"Es gibt keinen Sieger"
Frage: Waren sie überrascht, als Sie bei den Vermittlungsbemühungen im Moskauer Geiseldrama auf Frauen trafen, die bereit waren, sich selbst zu töten? Politkowskaja: Nein. Als das Theater besetzt wurde, kannte ich die Psychologie dieser Frauen, die etwas rächen wollen. Man kommt nach Tschetschenien, spricht mit den Leuten und merkt, dass viele Frauen bereit sind, sich so zu verhalten. Frauen erzählten, dass sie Frauenbrigaden bilden werden, weil die Männer sie nicht mehr schützen können und weil sie die verschwundenen Söhne rächen wollen. Frage: Was war der Auslöser für die Selbstmordattentate? Politkowskaja: Am Anfang des Krieges 1999 gab es das noch nicht. Damals hatten viele Leute Hoffnung und dachten, wahrscheinlich müssen wir das jetzt durchstehen. Sie hofften, dass man die Banditen und Wahabiten (islamische Extremisten, d. Red.) vernichtet und das Leben leichter wird. Die Tschetschenen und Inguschen haben ja unter ihren Wahabiten mehr gelitten als sonst irgend Jemand. Doch am Ende des Jahres 2001 stand es noch schlimmer um die Menschenrechte. Es begannen Säuberungen, Menschen verschwanden. Im Jahre 2001 brachen alle Hoffnungen zusammen. Europa hatte keine ernsthafte Position, eine Position der doppelten Standards. Die Menschen waren auf sich allein gestellt, Selbstmordattentate schienen ihnen die einzige effektive Möglichkeit die Erniedrigung zu beantworten. Frage: Man übernahm die Methoden der radikalen Palästinenser? Politkowskaja: In Tschetschenien kopiert niemand. Dort wohnen keine Idioten. Selbstmordattentate stehen nicht in der tschetschenischen und nicht in der islamischen Tradition. Die Frauen im Nord-Ost-Theater hatten noch die Hoffnung, den Krieg zu stoppen. Die Frauen, die sich beim Attentat auf das Moskauer Rockfestival in die Luft sprengten, hatten eine andere Logik. Es ging ihnen nicht darum, den Krieg zu stoppen. Sie agierten nach der Devise, ich füge Euch so viel Schmerz zu, wie ihr mir zugefügt habt. Frage: Haben diese Attentäterinnen Kontakt mit den Freischärlern? Politkowskaja: Einige handeln auf eigene Faust, andere sind Mitglieder von Dschamaats (Vereinigungen islamischer Extremisten, d. Red.) und bekommen von technische Unterstützung. Frage: Russische Zeitungen berichten, extremistische Kämpfer würden Frauen unter Drogen setzen. Politkowskaja: Die Sicherheitsorgane haben bisher nicht erklärt, dass sie im Blut von Selbstmordattentäterinnen Drogen fanden. Unter den Geiselnehmerinnen, die ich im Nord-Ost-Theater gesehen habe, war keine einzige, die wie eine Drogenkonsumentin aussah oder berauscht war. Frage: Wie reagiert die tschetschenische Gesellschaft auf die Attentate? Politkowskaja: Die tschetschenischen Männer haben gegenüber den Attentäterinnen eine sehr deutliche Position. Sie sagen, die Frauen erniedrigen uns mit ihren Taten. Sie demonstrieren uns, dass wir sie nicht schützen können. Die Mullahs in Tschetschenien sind kategorisch gegen solche Methoden. Aber ich habe auch erlebt, dass die Attentäterinnen in Tschetschenien als Heldinnen verehrt werden. Frage: Haben sie Hoffnung, dass sich in der russischen Gesellschaft jetzt etwas ändert? Politkowskaja: Wenn ich keine Hoffnung hätte, würde ich nicht arbeiten. Aber meine Hoffnung ist nicht besonders groß. So wie nach dem Terrorakt von Tuschino alle auf der Datscha saßen, so werden weiter alle auf der Datscha sitzen. Dieser Krieg dauert schon zu lange. Russland tut so, als ob es ihn nicht gäbe. Man redet von Wahlen und einer Verfassung, aber das steht kaum in einer Beziehung zu dem, was wirklich passiert. Frage: Finden Sie unter den Vertretern der russischen Sicherheitsstrukturen in Tschetschenien Gehör? Politkowskaja: Seit Anfang 2000 wussten Militärs, Geheimdienstler und Staatsanwälte, dass es keinen Sieg geben wird. Sie machen dort ihren Dienst. Sie machen Karriere, verdienen Geld. Aber es gibt vernünftig denkende Menschen unter ihnen. Sie verstehen, dass diese Anti-Terror-Operation mit ihren Methoden noch mehr Terror hervorgebracht hat, als es am Anfang gab. Frage: 1996 unterzeichneten der tschetschenische Präsident Aslan Maschadow und der russische General Alexander Lebed den Friedensvertrag von Chasawjurt. Müsste es nicht heute wieder so einen Politiker wie Lebed geben? Politkowskaja: Der Friedensvertrag von Chasawjurt wurde von dem Schweizer Diplomanten Tim Guldiman (er leitete damals die OSZE-Vertretung in Grosny, d. Red.) mit einer aufwändigen Reisetätigkeit vorbereitet. Das Schweizer Außenministerium und Guldiman wollen sich jetzt wieder in die Vermittlung einschalten. Ich wurde von der Regierung der Schweiz bereits um Rat gefragt. Der Hass bei den Russen und den Tschetschenen ist sehr groß. Man spricht nicht mehr offen miteinander. Deshalb kann der Krieg nur durch internationale Vermittlung beendet werden. Frage: Viele Tschetschenen sprechen inzwischen von einem Genozid an ihrem Volk. Teilen sie diese These? Politkowskaja: Ja, ich teile diese These. Ich habe mit sehr vielen Vertretern der OSZE, des Europarats und der Nato diskutiert. Dort hat man mir gesagt, die Kriterien für einen Genozid träfen auf Tschetschenien nicht zu. Doch wer stellt diese Kriterien auf? In Europa will man sich mit Putin nicht zerstreiten. Putin ist zweifellos Organisator des Genozids. Frage: Sie reisen häufig nach Tschetschenien. Wie verarbeiten sie die Eindrücke? Politkowskaja: Ich habe eine Familie, eine 22-jährige Tochter und einen 24-jährigen Sohn. Ich liebe sie. Das ist meine einzige Erholung. Meine Familie sagt immer, ich soll nicht mehr fahren. Aber ich kann nicht aufhören. Ich bekomme täglich Briefe aus Tschetschenien. In jedem Brief gibt es eine Bitte, jeden Tag ein neues Problem. Ich kann den Leuten nicht sagen, ich höre auf, ich bin müde.
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veröffentlicht in: Märkische Allgemeine