18. October 2025

„Europäische Werte“ im Sturzflug: Selenskyj demütigt den Bürgermeister von Odessa durch Entzug der Staatsbürgerschaft

Oleksandr Gimanov
Foto: Oleksandr Gimanov

18. Oktober 2025Von:  in Politik

In der Ukraine braut sich etwas zusammen. Überraschend hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am 14. Oktober den Bürgermeister von Odessa, Gennadi Truchanow, abgesetzt. Während die Lage an der Front für die Ukraine nicht günstig aussieht, die Zahl der Deserteure ins Unermessliche steigt und es in Kiew Gerüchte gibt, dass es in der Ukraine irgendwann Wahlen geben wird, scheint Selenskyj sich jetzt auf diese Wahlen vorzubereiten, indem er „unsichere Regionen“ unter seine direkte Verwaltung stellt.

Der Bürgermeister von Odessa, Gennadi Truchanow, war seit 2014 im Amt. Selenskyj erklärte, Truchanow habe beim Schutz der Energie-Versorgung in Odessa gegen den russischen Angriff viele Fehler gemacht. Am 15. Oktober 2025 ernannte Selenskyj nun den Geheimdienstgeneral Sergej Lysak zum Leiter einer Militärverwaltung von Odessa, die neu eingerichtet werden soll. Lysak hatte seit 2023 die Militärverwaltung des Gebietes Dnjepropetrowsk geleitet. 

Selenskyj hat Truchanow außerdem die ukrainische Staatsbürgerschaft entzogen. Auch damit verliert dieser automatisch sein Amt als Bürgermeister. Vor einem Gericht war die Frage der Staatsbürgerschaft von Truchanow zuvor nie behandelt worden. Es war die Entscheidung allein von Selenskyj 

Auch zwei anderen Ukrainern entzog der ukrainische Präsident die Staatsbürgerschaft, dem ehemaligen ukrainischen Oppositionspolitiker Oleg Zarjow, der jetzt in Russland lebt, wo er einen Anschlag – vermutlich von ukrainischen Untergrundkämpfern – überlebt hat. Der dritte Ukrainer, dem Selenskyj die Staatsbürgerschaft entzogen hat, ist der bekannte Ballett-Tänzer Sergej Polunin. 

Den Entzug der Staatsbürgerschaft für Truchanow begründete Selenskyj mit der Behauptung, Truchanow habe einen russischen Pass. Ein Bild dieses Passes wurde von dem bekannten Rechtsradikalen Sergej Sternenko im Internet veröffentlicht. Sternenko stammt aus Odessa und arbeitete eng mit dem ukrainischen Geheimdienst SBU zusammen. 

Truchanow bestreitet, einen russischen Pass zu haben. Er erklärte: „Ich werde weder Odessa noch die Ukraine verlassen.“ Er sei während seiner Amtszeit als Bürgermeister mehrere Male vom SBU überprüft worden. Es sei nichts Belastendes gegen ihn gefunden worden. Er sei bereit, sich einer Prüfung durch einen Lügendetektor zu unterziehen. Sollte seine Beschwerde vor einem ukrainischen Gericht keinen Erfolg haben, werde er vor das Europäische Gericht für Menschenrechte ziehen. 

Wer ist der nächste?

Der ukrainische Oppositionspolitiker Viktor Medwedtschuk, der sich nach politischer Verfolgung in der Ukraine nach Russland abgesetzt hat, meinte, Selenskyj versuche jetzt, wo Wahlen in der Ukraine im Gespräch sind, mögliche Konkurrenten auszuschalten. Eine reale Gefahr für Selenskyj ist der ehemalige Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte Waleryj Saluschnyj, der jetzt offenbar mit dem Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko ein Bündnis eingegangen ist. Klitschko ist für Saluschnyj wichtig, weil der Kiewer Bürgermeister mit der Partei „Udar“ eine Organisation hat, die in der ganzen Ukraine vertreten ist. 

Viktor Medwedtschuk erklärte: „Der Abstieg von Selenskyj geht weiter … Nachdem Selenskyj die Kommunalwahlen verhindert hat, beginnt er die Kommunen zu säubern mit dem Ziel, sie sich vollständig unterzuordnen. … Allen örtlichen Selbstverwaltungen wurde ein klares Signal gegeben. Gefasst machen müssen sich die Bürgermeister von Kiew (Vitali) Klitschko, von Charkow (Igor) Terechow, von Dnjepropetrowsk (Boris) Filatow und andere. Niemand und nichts schützt sie vor dem maßlosen Selenskyj.“

Dass an dieser Prognose etwas dran ist, zeigte eine Äußerung des Leiters der Militärverwaltung in Kiew, Timur Tkatschenko. Dieser forderte die Justizorgane und den ukrainischen Generalstab auf, die Tätigkeit des Bürgermeisters von Kiew, Vitali Klitschko, zu überprüfen. Klitschko gebe angeblich Geld der Stadt nach eigenem Gutdünken aus. „Er baut eine Brücke und er legt Kopfsteinpflaster an, macht aber nichts für die Sicherheit.“ Die kritische Infrastruktur sei „nicht geschützt“. Es gebe keine neuen Luftschutzkeller und keine Warnsysteme.

Das russische Internetmedium Dezn berichtet (1), im Darknet habe „Jemand“ die Nummer des angeblichen russischen Passes von Truchanow vergeblich gesucht.  

Vom Russland-Freund zum loyalen Verwalter der Maidan-Ukraine

Wie kam es, dass Gennadi Truchanow, ein Mann, der einen Großteil seines Lebens beim sowjetischen Militär verbracht hat und 2010 Mitglied der Russland-freundlichen Partei der Regionen wurde, sich als Gouverneur der Metropole Odessa bis 2025 halten konnte?

Das russische Internetportal Regnum.ru beschreibt die Geschichte von Truchanow wie folgt: „Während seiner politischen Karriere betonte Truchanow seine Unterstützung für die traditionellen Werte von Odessa: Er mochte es, am 9. Mai und am Tag der Befreiung (von der Hitler-Wehrmacht), dem 10. April, in einer sowjetischen Militäruniform spazieren zu gehen. Er trug offen das St. Georgs-Band und er sprach demonstrativ Russisch und trat gegen die (sprachliche) Ukrainisierung auf.“

Doch nachdem er 2014 zum Bürgermeister gewählt worden war, änderte Truchanow sein Auftreten. Er verhielt sich loyal zu der neuen Regierung in Kiew. Wenn der Präsident Petro Poroschenko Odessa besuchte, ließ er eine sowjetische Gedenktafel verhüllen und einen Chor ukrainische Lieder singen. 

Noch deutlicher wandelte sich Truchanow 2022 nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine. Er begann demonstrativ Ukrainisch zu sprechen. Er war immer gegen den Abbau von Denkmälern mit russisch-sowjetischem Bezug gewesen, ließ das Denkmal der russischen Zarin Katharina der Großen 2022 dann aber doch abbauen. Auch begannen die Beamten in der Stadtverwaltung, Straßennamen mit russischem Bezug umzubenennen. 

Doch Truchanow erklärte 2022 in einem Interview mit der italienischen Zeitung Corriere della Sera, dass er für direkte Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland sei. Es gehe „um Millionen Menschenleben“.

Was tun mit Odessa?

Nach dem demonstrativen Brandanschlag auf das Gewerkschaftshaus von Odessa am 2. Mai 2014 zogen sich diejenigen, die auf Demonstrationen und einem Zeltlager vor dem Gewerkschaftshaus für eine Föderalisierung der Ukraine eingetreten waren, eingeschüchtert zurück ins Privatleben, andere flüchteten nach Russland. Doch in russischen Medien liest man immer wieder davon, dass es in Odessa noch einen „Untergrund“ gebe. Noch sei dieser nicht organisiert, aber er leiste der russischen Armee Beistand, indem man Informationen über die Wirkung von russischem Beschuss übermittle. 

Unmittelbar nach dem Brand im Gewerkschaftshaus 2014 machte der „Untergrund“ in Odessa noch mit Anschlägen auf Filialen der ukrainischen „Privatbank“ des Oligarchen Ihor Kolomoyskyj von sich reden. Kolomoyskyj, so liest man im russischsprachigen Internet, stecke hinter dem Brandanschlag auf das Gewerkschaftshaus von Odessa am 2. Mai 2014. Nach dem Brandanschlag wurde Ihor Paliza aus dem Gebiet Dnjepropetrowsk Gouverneur des Gebietes Odessa. Paliza war ein Vertrauensmann von Kolomoyskyj. 

2015 wechselte der ehemalige georgische Präsident Michail Saakaschwili auf den Posten des Gouverneurs von Odessa. Saakaschwili hatte – wie schon sein Vorgänger – die Aufgabe, das prorussisch gestimmte Gebiet Odessa der neuen Regierung in Kiew unterzuordnen. Das Verhältnis von Saakaschwili zu Bürgermeister Truchanow war äußerst gespannt. Als Truchanow wegen Korruptionsvorwürfen vor Gericht stand, konnte er jedoch alle Vorwürfe zurückweisen. Er wurde nicht verurteilt.

Mit dem neuen Leiter der Militärverwaltung von Odessa, Sergej Lysak, hat nun wieder ein Vertreter des Gebietes Dnjepropetrowsk im Gebiet Odessa das Sagen. Der ehemalige Abgeordnete des ukrainischen Parlaments und Kritiker der Regierung in Kiew, Wolodymyr Olejnik, erklärte gegenüber der Nesawisimaja Gaseta, „es ist offensichtlich, dass er (Lysak) andere Vertreter des Clans von Dnjepropetrowsk in die Stadt bringen wird, um die Kontrolle über die örtliche Geschäftswelt zu bekommen. … Alles wird schnell und hart gehen, um sich die besten Stücke anzueignen.“

„Tagesschau“ gibt Selenskyj-Kritikerin das Wort

Erstaunlich ist, dass die deutsche „Tagesschau“ zum Fall Truchanow einer Selenskyj-Kritikerin das Wort gab. Maryna Bojko von der Poroschenko-Partei „Europäische Solidarität“ und Mitglied im Stadtrat von Odessa erklärte gegenüber der „Tagesschau“, Selenskyj mache sich daran, die kommunale Selbstverwaltung der Stadt auszuhebeln. Eigentlich müsse das ukrainische Parlament entscheiden, ob alle Vollmachten der städtischen Organe an die neue Militärverwaltung übergehen… Niemand hier weiß, worauf wir uns einstellen müssen.“ 

Erstaunliche Kritik kommt auch von dem Journalisten Christo Grozev, der für das pro-westliche Recherche-Team Bellingcat und den „Spiegel“ arbeitet. Er enthüllte auf X (vormals Twitter), dass es sich bei dem angeblichen russischen Pass von Truchanow um eine Fälschung handelt. (2)

In den Hauptstädten Europas wird man die Entwicklungen in Odessa jetzt sicher sehr aufmerksam beobachten. Denn der neueste Schachzug von Selenskyj hat etwas Halsbrecherisches. Wird sich die Bevölkerung von Odessa die Bevormundung durch Kiew gefallen lassen? Wo sind die oftmals versprochenen europäischen Werte?

Ich erinnere mich gut daran, dass die Staatsstreich-Regierung in Kiew 2014 eine Maßnahme rückgängig machen musste, weil westliche Regierungen Einspruch eingelegt hatten. Das ukrainische Parlament, die Werchowna Rada, beschloss in seiner ersten Sitzung nach dem Staatsstreich am 23. Februar 2014, den Sprachen der Minderheiten in der Ukraine ihren besonderen Status zu entziehen. In Gebieten mit einer zahlenmäßig starken Minderheit wurde deren Sprache – neben dem Ukrainischen – automatisch zweite offizielle Sprache. Diese Regelung war unter dem „prorussischen“ Präsident Viktor Janukowitsch gesetzlich eingeführt worden. 

Gegen die Abschaffung eines besonderen Status für Minderheitensprachen gab es 2014 jedoch Widerspruch nicht nur von Russland, sondern auch aus dem westlichen Ausland und zwar von der OSZE und den Außenministern von Polen, Ungarn und Rumänien. Im westlichen Ausland fürchtete man offensichtlich, dass die Proteste im Südosten der Ukraine gegen die Abschaffung der russischen Sprache ausufern und die Staatsstreichregierung und damit auch die Interessen der EU in der Ukraine beschädigen könnten. 

Der damalige ukrainische Übergangspräsident Oleksandr Turtschynow legte dann gegen die Abschaffung des besonderen Status für Minderheiten-Sprachen sein Veto ein, so dass das unter Janukowitsch verabschiedete Gesetz weiterhin in Kraft blieb. Doch die Staatsstreich-Regierung verfolgte ihre Pläne zur Verbannung der russischen Sprache aus dem öffentlichen Raum und den Schulen weiter.(3)

Odessit von Geburt an

Gennadi Truchanow wurde 1965 in Odessa geboren. Nach dem Wehrdienst stand er von 1986 bis 1992 im Dienst der sowjetischen Armee. In den 1990er Jahren, in der Zeit des wilden (von den USA unterstützten, Red.) Kapitalismus, hatte er verschiedene Tätigkeiten im Bereich Sicherheit und Beratung. Ihm wurde nachgesagt, er habe damals Kontakte zur „Öl-Mafia“ von Odessa gehabt. Später machte er eine Ausbildung als Jurist. 2005 wurde er Abgeordneter im Stadtrat von Odessa. 

Nach dem Wahlsieg des Russland-freundlichen Präsidenten Viktor Janukowitsch, 2010, wurde Truchanow Mitglied der Russland-freundlichen „Partei der Regionen“, für die er 2012 als Abgeordneter ins ukrainische Parlament gewählt wurde.

Am 25. Mai 2014 – also nur wenige Wochen nach dem Brandanschlag auf das Gewerkschaftshaus von Odessa – wurde er mit 43 Prozent der Stimmen zum Bürgermeister von Odessa gewählt. Bei der Wahl 2015 bekam er 52 Prozent der Stimmen und bei den Bürgermeisterwahlen 2020 54,3 Prozent der Stimmen. 

Die drohende Ausschaffung von Truchanow aus der Ukraine wirft viele Fragen auf. Eine der wichtigsten Fragen ist: Welche Chance hat die multinationale Ukraine als Staat, wenn sie selbst Personen, die dem Russland-feindlichen Kurs folgen, keine Chance gibt und sie demütigt?

P.S. der Redaktion: Odessa ist eine kulturell, wissenschaftlich und historisch hochinteressante Millionen-Stadt am Schwarzen Meer, die schon immer eine einzigartige Mischung von Ethnien und Sprachen beherbergte. Obwohl sie seit Anfang der 1990er Jahre zur unabhängig gewordenen Ukraine gehört, ist die meistgesprochene Sprache in der Stadt die russische, was ich (Christian Müller) anlässlich meines Besuches im Jahr 2006 mit eigenen Ohren hören konnte. Dass sich diese Stadt der unmenschlichen antirussischen Sprachen-Politik von Kiew nicht einfach unterwirft, ist mehr als verständlich. Man stelle sich vor, Bern würde in Genf die französische Sprache unterdrücken wollen! Die Ukraine könnte von der Schweiz lernen, dass auch ein mehrsprachiges Land demokratisch gut funktionieren kann. Siehe dazu meine eigenen Beiträge zu diesem Thema aus dem Jahr 2020 – damals auf «Infosperber» – hier und hier. Leider sind dort etliche Informationen, die über Links zur Lektüre empfohlen wurden, nicht mehr einsehbar. (cm)

(1) https://dzen.ru/a/aO9rISSR60SvE2xi?ysclid=mgussvt2ss284083741
(2) https://x.com/christogrozev/status/1978506162715709447
(3) https://archiv.telepolis.de/features/Russische-Lieder-in-den-Bahnhoefen-von-Kiew-und-Odessa-3561255.html

 

veröffentlicht in: Globalbridge

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