4. July 2024

Feuer, Eis und ein starkes Mädchen (Die Krähe)

© Ulrich Heyden
Foto: © Ulrich Heyden

Ulrich Heyden, Sibirien

Würziger Rauch steigt in meine Nase, als ich langsam durch den Spalier aus glühenden Sumpfporst-Zweigen gehe, den unsere ewenkischen Gastgeber für uns gebildet haben. Zuvor tanzten die Frauen und Männer in ihren bestickten Wintermänteln aus Rentierfell und schlugen ihre Tamburine. Sie forderten uns auf, Rentierfleisch-Stücke mit „guten Gedanken“ in ein Feuer zu werfen. Bei den Völkern des Nordens, erklärt uns eine Frau, die dieses Begrüßungsritual anleitet, sei das Feuer „ein lebendiges Wesen“. 

Wir befinden uns 3.300 Kilometer östlich von Moskau im Dorf Bajkit, das an dem 500 Meter breiten Fluss Tunguska liegt. Das Dorf in Ost-Sibirien hat 3000 Einwohner, wovon die übergroße Mehrheit Russen sind. Doch es ist die Minderheit der Ewenken, die hier schon vor der Kolonisierung Sibiriens durch das Zarenreich im 17. Jahrhundert den widrigsten klimatischen Bedingungen und politischen Wirren trotzten. Die Lastwägen können nur im Winter Nahrungsmittel bringen. Dann, wenn der Boden bei Minus 40 Grad festgefroren und befahrbar ist. Im Sommer leben die Menschen von ihren Vorräten, vom Fischfang, der Jagd und von dem in Gewächshäusern gezogenen Gemüse.

Unsere Reisegruppe, bestehend aus ausländischen Journalisten, die vom russischen Außenministerium eingeladen wurden, musste mit einem kleinen Propellerflugzeug in das Gebiet der Ewenken gebracht werden. Denn wenn im Juni der letzte Schnee geschmolzen ist, verwandelt sich die Landschaft um Bajkit in eine Sumpflandschaft. Auch deswegen gibt es keine Eisenbahnstrecke. Der Diesel-Treibstoff für die Stromgeneratoren wird im Frühjahr mit Barkassen über den Fluss Tunguska herangeschafft. 

Eis und Feuer sind lebenswichtige Elemente für die Ewenken, wobei sie das Feuer regelmäßig mit schamanistischen Ritualen um Hilfe bitten. Nicht nur wenn Gäste in dieses abgelegene Gebiet kommen, sondern zum Beispiel auch bevor die Jäger auf die Jagd gehen. Die Ewenken leben ihren Schamanismus wie selbstverständlich neben den Russen mit ihrem russisch-orthodoxen Glauben. Beide Religionen existieren friedlich nebeneinander. Die Kooperation der beiden Völker wird auch gestärkt durch die vielen gemischten Ehen.

 

 

Tänzer und Sängerinnen in Bajkit – Anna Kusenko dritte von rechts
 © Ulrich Heyden

Aktiv für die Kultur der Ewenken

Am Flughafen von Bajkit schloss mich Anna Kusenko in die Arme. Meine Kollegen wunderten sich über die herzliche Begrüßung dieser für sie fremden Frau. Ich erklärte ihnen, dass ich Anna 2002 kennenlernte, als ich auf eigene Faust nach Bajkit geflogen war. Die kleinen Völker Russland hatten mich schon damals interessiert. 

Der Mann von Anna, Valeri, 2002 Assistent des Bürgermeisters, hatte mich damals von dem kleinen Flughafen in Bajkit abgeholt. Man hatte ihm gesagt, am Flughafen sei ein Ausländer, der im Ort niemanden kenne. 

Valeri bot mir damals an, bei seiner Familie zu wohnen. Anna und Valeri wohnten in einem Reihenhaus aus Holz mit hölzerner Gemeinschaftstoilette auf dem Hof. Als ich sie das zweite Mal besuchte, hatten sie schon ein eigenes Haus mit mehreren Zimmern und einem Badezimmer.

Mit Anna und Valeri fuhr ich 2002 fünfzig Kilometer auf dem Tunguska-Fluss, durch eine menschenleere Gegend zu einem Kinderlager, welches Anna in der Wildnis organisiert hatte. Anna ist Ethnologin. Sie hatte wie Angehörige der nördlichen Völker in St. Petersburg an einem Spezial-Institut für die Völker studiert.  

In dem Kinderlager wurden die Kinder in der ewenkischen Kultur unterrichtet. Sie malten Szenen aus dem Leben der Ewenken und lernten, wie man eine Vorratskammer aus Holz auf zwei Meter hohen Holzstämmen baut, damit die wilden Tiere sie nicht plündern können. 

Als ich Anna das letzte Mal sah, war sie Koordinatorin von sieben Kultur-Clubs in ewenkisch-russischen Dörfern. Ihr Engagement für die ewenkische Kultur führte sie 2019 sogar nach Genf auf einen UNO-Kongress der kleinen Völker.  

Anfang der 1990er Jahre gab es unter vielen kleinen Völkern Russlands so etwas wie eine Aufbruchstimmung. Man besann sich auf die eigene Kultur und trat selbstbewusst auf. In den 1990er Jahren gab es allerdings auch Arbeitslosigkeit und sozialen Verfall. 2002 sah ich viele Alkoholiker, die in Holzhäusern vor sich hinvegetierten. Alkoholiker sah ich bei meiner zweiten Reise nicht mehr. Aber für eine gründlichere Recherche reichte die Zeit nicht. 

Aus dem autonomen Gebiet wurde ein Rayon

Bis zur Kolonisierung Sibiriens durch das Zarenreich im 17. Jahrhundert lebten in Ost-Sibirien die Ureinwohner, das waren neben den Ewenken auch Jakuten, Burjaten und andere ... (Weiterlesen in die Krähe Nr. 9)

veröffentlicht in: Die Krähe (Wien) Nr. 9, 2024

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