10. September 2010

Folter-Skandal bei der russischen Polizei

Von Ulrich Heyden, SZ-Korrespondent in Moskau

Ein 17-Jähriger soll von Polizisten so misshandelt worden sein, dass er fast hätte kastriert werden müssen – offenbar kein Einzelfall.


Diesen 31. August wird Nikita Kastasew sein ganzes Leben nicht vergessen. Gegen 23 Uhr ist der 17-Jährige mit seinem Freund Roman im Industriestädtchen Kstowo bei Nischni Nowgorod auf dem Nachhauseweg. Die beiden haben Bier getrunken. Es gibt Grund zu feiern. Es ist der letzte Tag der Sommerferien. Kurz vor Nikitas Wohnung werden sie von Polizeibeamten angehalten – ohne besonderen Grund. Später folgen Schläge in einer Wache. In panischer Angst versuchen die Jungs zu fliehen. Die Polizisten fangen sie schnell wieder ein und bringen sie in die Polizeizentrale. Dort müssen sich Nikita und Roman breitbeinig hinstellen, mit dem Gesicht zur Wand.

Nikita sei mehrmals in die Leistengegend getreten worden, sagt er später. Ein Leutnant soll gedroht haben, ihn zu erwürgen. Viele Kollegen sollen zugesehen haben. Bis heute wisse sie nicht, was die Polizisten eigentlich von ihrem Sohn wollten, sagt Nikitas Mutter, Natalja Frolowa.

Sie hat Nikita erst am Morgen wiedergesehen, als die Polizisten ihn nach Hause brachten. In blutverschmierten Sachen. Von den Verwandten forderte eine Jugendfürsorgerin dann die Unterschrift unter ein Schriftstück, in dem stand, dass man keine Beanstandungen gegen die Polizei habe. Niemand war bereit, das Dokument zu unterschreiben.

Für immer geschädigt


Nikita wurde in das Krankenhaus von Kstowo eingeliefert, wo man ihn an den Geschlechtsteilen operierte. Die Befürchtung, der Junge müsse wegen den Verletzungen kastriert werden, bewahrheitete sich zum Glück nicht. Einer der beiden Hoden ist jedoch nicht mehr funktionsfähig. Ob Nikita jemals Vater werden kann, ist nicht sicher. Seine Mutter erstattete Anzeige wegen Körperverletzung.

Für die Russen sind Polizei-Übergriffe und Folter durch Polizeibeamte inzwischen nichts Neues mehr. Lesen kann man darüber allerdings nur im Internet und den wenigen kritischen Zeitungen.

Auch Kstowo ist, was Polizeiübergriffe betrifft, ein „schwarzes Loch“, sagt Maksim Prydkow vom Anti-Folter-Komitee in Nischni Nowgorod. „Die Polizei fühlt sich dort allmächtig, weil bisher keiner ihrer Übergriffe verfolgt wurde.“ Das Komitee, welches den Fall von Nikita publik machte, habe in den vergangenen zehn Jahren 1300 Fälle von gewalttätigen Polizisten untersucht. Da sei zum Beispiel der Fall des Rentners Pawel Sedow. Ein Polizist soll ihn mit einem Gummiknüppel vergewaltigt haben, um Fakten über den Mord an einem Bekannten herauszubekommen.

Menschenrechtler Maksim Prydkow hat keine Hoffung, dass sich bei der wegen Korruption und gewalttätigen Übergriffen gefürchteten russischen Polizei in naher Zukunft etwas ändert.

Reform hilft nicht weiter


Zwar sah man im Kreml die Zeit für eine grundlegende Reform des Polizeiapparates gekommen, nachdem der Chef eines Polizeibezirks im Südwesten Moskaus bei einem Amoklauf im April vergangenen Jahres zwei Menschen getötet hatte. Nach Meinung Prydkows aber räumt das jüngst vom russischen Innenminister Raschid Nurgalijew vorgestellte neue Polizeigesetz der Polizei noch mehr Rechte gegenüber den Bürgern ein. Die von Präsident Dmitri Medwedew angeordnete stärkere Überprüfung von Polizisten bei der Einstellung, ändere daran nichts. „Dass die Polizei sich selbst reformiert, das funktioniert nicht, insbesondere nicht in Russland“, sagt Prydkow. Mehrere russische Menschenrechtsorganisationen haben sich deshalb nun an einen Tisch gesetzt, um eigene Vorschläge für die Reform des Polizeirechts auszuarbeiten.

"Sächsische Zeitung"
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