Französische Expertin für "Gelbwesten" gilt FSB als "Gefahr für die staatliche Sicherheit"
Carine Clement, eine französische Soziologin, die über zwanzig Jahren in Moskau gelebt hat, bekam am Moskauer Flughafen Scheremetewo ein zehnjähriges Einreiseverbot
Am Freitagabend sollte die französische Soziologin Carine Clement im Moskauer Wosnesenski-Kultur-Institut einen Vortrag über die "Gelbwesten" in Frankreich halten. Doch am Mittwoch wurde die Soziologin am Moskauer Flughafen Scheremetjewo die Einreise nach Russland verweigert. Clement musste zurück nach Frankreich fliegen.
Russische Grenzbeamte hatten die Soziologin und Sozial-Aktivistin am Moskauer Flughafen Scheremetjewo mit einer Anordnung des russischen Inlandgeheimdienstes FSB bekannt gemacht, nach der Clement eine "Gefahr für die staatliche Sicherheit" Russlands ist. Das Einreiseverbot gegen die Französin hat eine Gültigkeit von zehn Jahren. Die französische Botschaft in Moskau bestätigte, dass Clement nach Frankreich zurückgekehrt ist.
"Schutz der nationalen Sicherheit"
Aleksandr Michailow, Generalmajor des FSB im Ruhestand, erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur Ria Novosti, man werde "nicht zulassen, dass die westlichen Erfahrungen, wie man innenpolitische Konflikte 'anheizt', nach Russland übertragen werden". Das Auftreten der Gelbewesten in Frankreich habe "einen absolut extremistischen Charakter". Man müsse jetzt prüfen, ob die Personen, welche die Französin nach Russland eingeladen haben, sich "politisch fragwürdig aufführen".
Der FSB-Ex-Generalmajor erklärte, es gäbe sehr viele Personen, denen die Einreise nach Russland verwehrt werde. Selbst wenn ein Mensch keine umstürzlerische Tätigkeit betreibe, "aber die Macht und die Symbole des Staates beleidigt", so müsse man diese Personen "sorgfältig herausfiltern".
Die französische Soziologin wollte am Freitag im Moskauer Wosnesenski-Kultur-Institut einen Vortrag mit folgendem Titel halten: "Die russischen 'Watniki' und die französischen 'Gelbwesten': Der Versuch, Menschen zu verstehen, die sich zur sozialen Unterklasse zählen." Der Vortrag basierte auf soziologischen Feldstudien, unter anderem auf 227 Interviews, die Clement in Russland gemacht hatte.
Am Freitag veröffentlichte die Novaya Gaseta auf ihrer Website die Thesen des Vortrags, der nicht gehalten werden konnte.
Parallelen zwischen "Watniki" und "Gelben Westen"
Nach Meinung der französischen Soziologin gibt es zwischen den protestierenden sozialen Unterschichten in Russland und Frankreich Parallelen. Clement benutzt für die russische Unterschicht den Begriff "Watniki". Dieser Begriff bezieht sich auf die Wattejacken von Arbeitern zu Sowjetzeiten und wird in abfälliger Weise von russischen Liberalen gegenüber Menschen in den russischen Regionen benutzt, die sich vom Kreml "lenken" lassen.
Den "Watniki" wie den "Gelbwesten" werfe man vor, sie hätten "reaktionäre Vorstellungen, seien nationalistisch, kurzsichtig und von bestimmten Kräften gelenkt", meint Carine Clement. Doch nach Meinung der Soziologin entstehen bei den "Gelben Westen" - wie bei den "Watniki" - "neue solidarische Verbindungen, es entwickelt sich das politische Verständnis und es entsteht ein bestimmter Typ sozialer Kritik". Die Menschen würden "die soziale Ungleichheit, die Ausbeutung und den oligarchischen Charakter des Staates" kritisieren.
Großes Echo bei liberalen russischen Medien
Das Einreiseverbot für die französische Soziologin hat in den liberalen russischen Medien, wie Kommersant, snob.ru, esquire.ru und novayagazeta.ru, ein großes Echo ausgelöst. Das hat wohl damit zu tun, dass Clement mit ihrem Ansatz einer Zivilgesellschaft, die von unten aufgebaut wird, im schroffem Gegensatz steht zu dem patriarchalischen russischen Politikmodell, nach dem der Kreml bei der Gründung und Initiierung von Parteien und Bewegungen gefragt werden muss und das letzte Wort haben will.
Clement ist zwar eine Linke, doch sie war immer ein begehrter Gast bei Veranstaltungen der Liberalen in Moskau.
Was die Gründe für das Einreiseverbot sind, wurde die Soziologin von der Novaja Gaseta gefragt. Es gäbe verschiedene möglich Gründe, meinte Clement, "Panik der Macht" oder "Unordnung". Möglich sei auch, dass ihre politische Vergangenheit eine Rolle spiele. Sie sei eine sehr rührige Aktivistin gewesen. Aber das sei vor zehn Jahren gewesen: "Jetzt beschäftige ich mich mit der reinen Wissenschaft."
Eine russisch-französische Familie
Clement forschte und lehrte über zwanzig Jahre in Russland. Das erste Mal kam sie 1994 in das Land, um Material für eine Dissertation zu sammeln.
Sieben Jahre war sie mit Oleg Schein, einem linken Aktivisten aus Astrachan verheiratet, der für die Partei Gerechtes Russland in der Duma sitzt. Dort hatte Schein im Juni letzten Jahres eine viel beachtete Rede gegen die Erhöhung des Rentenalters in gehalten.
Auch der zweite Ehemann von Clement ist ein Russe. Er heißt Andrej Demidow und war einer der Vorsitzenden der unabhängigen Lehrergewerkschaft "Utschitel". Mit ihrem zweiten Mann lebt Clement seit einem Jahr in Frankreich. Die beiden haben eine Tochter, welche die russische Staatsbürgerschaft hat. Die Soziologin erklärte, sie werde versuchen, das Einreiseverbot auf gerichtlichem Wege anzufechten.
Der Ehemann von Clement, Andrej Demidow, grenzte sich 2012 in einem Interview mit Telepolis vom Modell einer "orangenen Revolution" ab ("Eine Orangene Revolution wird es nicht geben"). Eine "orangene Revolution" führe nur dazu, dass - wie in der Ukraine - "eine Führungsfigur durch eine andere Führungsfigur ausgetauscht wird". Soziale Erfolge seien nur möglich, wenn auch in der russischen Provinz - die im Gegensatz zum "bürgerlichen Moskau" eher links gestimmt sei - Basis-Komitees aufgebaut würden.
Für das Buch "Opposition gegen das System Putin. Herrschaft und Widerstand im modernen Russland" interviewte ich im Jahr 2008 auch Carine Clement. Sie leitete damals das 2004 gegründete "Institut für kollektive Aktion", welches auf der inzwischen nicht mehr erreichbaren Website www.ikd.ru Berichte von Bürger- und Sozialprotesten aus ganz Russland veröffentlichte und damit einzigartig war.
Konferenz mit linken Russen in Berlin
Dass nicht alle Kontakte zwischen Russen und Linken in Westeuropa zu heftigen Reaktionen der russischen Sicherheitsbehörden führen, zeigte eine von der Rosa-Luxemburg-Stiftung veranstaltete Konferenz, die vom 26. bis zum 28. November 2019 in Berlin stattfand. Das Motto der Veranstaltung war: "Fokus Russland. Erfahrungen und Debatten - Hintergründe und Herausforderung". Teilnehmer waren linke Aktivisten, Politiker und Gewerkschafter aus Russland.
Ziel der Konferenz war es, das interessierte deutsche Publikum aus erster Hand über soziale Bewegungen in Russland zu informieren. Über irgendwelche Strafmaßnahmen gegen die russischen Teilnehmer dieser Konferenz wurde nichts bekannt.
(Ulrich Heyden)
veröffentlicht in: Telepolis