16. May 2023

Gestrandet in Moskau

Was Liane Kilinc vom Verein Friedensbrücke-Kriegsopferhilfe im Donbass erlebt hat und warum sie heute in Moskau lebt. Mein Interview im Video- und Text-Format 

 

Gestrandet in Moskau

22. Mai 2023  50 Kommentare

Die humanitäre Helferin Liane Kilinc erzählt von ihrer Reise in den Donbass und warum sie jetzt in Moskau lebt.

Wie wird eine Deutsche anerkannter politischer Flüchtling in Russland? Davon und von der Lage im Donbass handelt das folgende Interview, welches Ulrich Heyden in Moskau mit Liane Kilinc aus Wandlitz (Brandenburg) führte. Kilinc (Jahrgang 1972) ist von Beruf Betriebswirtin. Sie war 19 Jahre in der Pflege tätig und neun Jahre lang DDR-Meisterin im Nationalkader des Jugend-Bahnradsports.

Kilinc lebt jetzt seit acht Monaten in Moskau. Es habe für sie keine andere Möglichkeit gegeben als nach Russland zu gehen, sagt die Deutsche, welche 2015 den Verein „Friedensbrücke-Kriegsopferhilfe e.V.“ gründete, der auch hilfsbedürftige Menschen im Donbass unterstützt.

2022 geriet der von Kilinc gegründete Verein in die Schlagzeilen großer deutscher Medien. Die Welt, die Bild und t-online behaupteten, Kilinc und ihr Verein unterstützten „Putins Krieg“ in der Ukraine.

Nach dieser Medienkampagne wurde dem Verein die Gemeinnützigkeit aberkannt und schon fünfmal wurden die Spendenkonten gekündigt.

Sie waren jetzt 16 Tage im Donbass. Wie übersteht man so eine Reise mitten im Krieg?

Es war meine zehnte Reise in den Donbass und da weiß man, was auf einen zukommt und was unsere Aufgaben sind. Wir sind gut organisiert. Trotzdem kann man natürlich viele Gegebenheiten nicht planen. Und wir wissen ja, dass gerade jetzt der Beschuss der Regionen Donezk und Jasinowataja sehr stark ist. Ich bin der Meinung, dass ich das ganz gut überstanden habe. Und die nächste Fahrt ist schon in Planung, weil die Hilfe nicht abbrechen darf.

Was war das Ziel dieser Reise?

Foto: Ulrich Heyden

Das Ziel der Reise war die humanitäre Hilfe. Wir hatten kurz vor meiner Reise einen 20-Tonnen-Laster mit humanitärer Hilfe geschickt. Und da war die Verteilung vor Ort die Hauptaufgabe. Das zweite, was immer sehr wichtig ist, sind die Kontakte zu den Verantwortlichen zu halten, zu knüpfen und den Bedarf neu auszurichten. Im Moment ist der Bedarf relativ gleichgeblieben. Medikamente, die Wasserversorgung und Grundnahrungsmittel haben Priorität. Es gab Treffen mit den Bürgermeistern und Stadtverwaltungen. Bei den Flüchtlingen, die jetzt aus den verschiedenen Regionen wie Saparoschje und Artjomowsk in die Region Donezk dazukommen, gibt es zurzeit ein Problem mit der Versorgung. Die Flüchtlinge werden in kleinen Gruppen von 50 bis 60 Personen in verschiedenen Gemeinden in Turnhallen und Kulturhäusern untergebracht.

Es geht um die Flüchtlinge aus den frontnahen Gebieten und den Gebieten, die jetzt von den russischen Truppen erobert wurden?

Befreit wurden, nicht erobert.

Diese Leute werden nicht nach Russland gebracht, sondern innerhalb der Volksrepubliken untergebracht?

Jein. Die können das selber entscheiden. Unsere Mitarbeiter haben sich unterschiedlich entschieden. Die einen sind geblieben, die anderen sind nach Russland gefahren. Andere haben gesagt, wir gehen ein paar Orte weiter, wo es sicherer ist. Heute Nacht habe ich die Information bekommen, dass Leute, die aus Russland wieder in den Donbass zurückgekommen sind, die Region jetzt wieder verlassen, weil seit zwei Tagen der Beschuss von Seiten der Ukraine derart stark ist, dass sie die Region wieder verlassen müssen. In den Gebieten, die stark beschossen werden, gibt es eine Ausgangssperre. Die Leute dürfen nicht in ihre Gärten gehen.

Und die Kinder gehen nicht zu Schule?

Es ist ganz unterschiedlich. In Donezk gibt es seit über einem Jahr Fernunterricht. Die Schulen und Kindergärten sind geschlossen. Auch in Jasinowataja sind die Schulen zu. In der Stadt Charzysk, sind die Schulen dagegen in Betrieb.

Haben sie mal mit einer Familie gesprochen, die ihre Kinder seit über einem Jahr zuhause betreut?

Wir betreuen um die Stadt Charzysk viele Familien, wo die Mütter mit den Kindern alleine sind. Meist sind es fünf bis sechs Kinder. Es ist für alle Seiten eine sehr schwierige Situation. Für die Lehrer, die Kindergärtner, wie auch für die Familien. Und trotzdem muss ich sagen, meistern sie diese Situation irgendwie hervorragend. Für die Kinder glaube ist die Situation problematisch. Manche leben ja schon zwei Jahre im Ausnahmezustand. Sie sind zwar mit den Geschwistern zusammen, aber die ganzen sozialen Interaktionen finden ja nicht statt. Die können auf keinen Spielplatz und nur selten nach draußen gehen. Natürlich kann man auch Fernunterricht machen, aber bei Musik und Sport ist das schwierig. Der Fernunterricht begrenzt sich dann auf die Hauptfächer. Wenn die Kinder nach Russland kommen, wo es sicher ist, bekommen sie Vollunterricht.

Wie ist die Ausstattung mit Computern?

Die Kinder haben das gesamte Schulmaterial. Aber ein Problem im Donbass ist, dass nicht alle Familien die Technik für den Fernunterricht haben. Meistens läuft das über ein Handy. Die Lehrer machen aber auch Hausbesuche. Wenn man als Lehrer zwanzig Kinder hat, ist für einen Hausbesuch immer nur eine halbe Stunde Zeit. Ich habe mit einem Jungen, den ich schon viele Jahre kenne, in einem Dorf bei Charzysk, zusammen Schularbeiten gemacht. Es ging um Deutsch. Wir haben zusammen gelesen und er hat ein Gedicht vorgetragen. Das war für mich ein schöner Moment.

Wie sieht es mit dem Wiederaufbau aus?

Russland macht wahnsinnig viel. Die Kindergärten sind fast alle beschädigt. Es wurden neue Fenster eingesetzt. Innen wird alles neu renoviert und saniert, von den Toiletten bis zu den Fliesen. Ja, und als ich jetzt da war, waren die ersten Fenster schon wieder kaputt. Die ukrainische Armee zielt auf soziale Infrastruktur, Schulen, Kindergärten und Straßen. Daran kann man auch erkennen, dass es in die Richtung verbrannte Erde geht. Das sieht man ja auch in Artjomowsk/Bachmut, dass gezielt Wohnhäuser zum Einsturz gebracht werden, damit ja nichts übrigbleibt.

Was ist die Motivation der Hunderttausenden, die trotz des Beschusses in den Volksrepubliken geblieben sind?

Der Beschuss war zwischenzeitlich zurückgegangen, gerade auch in der Region Gorlowka. Aber die Frontlinie verändert sich ständig. Der Hauptgrund für die meisten, die geblieben sind, ist, das ist meine Heimat. Hier habe ich Familie und meinen Arbeitsplatz. Die haben fast alle Arbeit, ob als Lehrer oder als Verkäuferinnen. Wenn sie nach Russland gehen würden, dann würden sie einfach nur in der Wohnung sitzen. Sie wollen ihr gesamtes Umfeld nicht aufgeben. Und sie werden auch gebraucht. Was die älteren Menschen betrifft: Ältere Menschen verpflanzen, das macht man ja nicht so gerne. Also alle, die aber 80 sind, bleiben natürlich dort. Und die müssen dann auch versorgt werden. Die älteren Menschen leben meist noch in ihren Wohnungen, in denen sie schon dreißig Jahre leben.

Hat sich die Situation im Donbass seit Ihren früheren Reisen stark verändert?

2015, 2016 und 2017 war es ähnlich wie heute. Damals ging es um die Evakuierung von Personen, in erster Linie von Kindern. Und das geschah immer auf Bitten der Eltern. Und das ist auch logisch, die Kinder aus den Frontgebieten und den stark beschossenen Gebieten in Sicherheit zu bringen. Das wird ja jetzt von den westlichen Regierungen umgedreht und man sagt, die Kinder würden entführt. Das ist absoluter Blödsinn. Evakuierungen gibt es nur auf Bitten der Eltern oder mit den Eltern, also mit der Mutter oder Großmutter. 2015 bis 2017 haben wir Friedenscamps für 4.000 evakuierte Kinder im Gebiet Rostow unterstützt. Die Kinder sind dann Ende 2017 in den Donbass zurückgekehrt, weil sich der Konflikt etwas beruhigte.

Es gibt den Vorwurf, dass Russland obdachlose Kinder auf den Straßen einsammelt und sie dann schnell in Russland einbürgert …

Was die Vollwaisen betrifft, kann ich dazu keine Auskunft geben. Dazu reichte meine Zeit vor Ort nicht. Aber ich habe verschiedene Heime besucht. Denen brachten wir Warmwasser-Boiler, Spielzeug, Sportgeräte für Drinnen, eine Tischtennisplatte. Es gibt auch sogenannte Sozialzentren, wo Kinder untergebracht sind, deren Väter gefallen sind und oder die Mutter um Unterstützung wegen der Kinder gebeten hat. Die Kinder bekommen in diesen Sozialzentren ein sehr gutes Programm geboten. Die Betreuung dort ist nicht schlechter als in Deutschland. Neun Jahre unerklärter Krieg gegen die Donbass-Region hinterlässt Spuren. Die Familien sind oft sehr kinderreich. Wenn ein Kind psychische Probleme hat, nehmen die Eltern die Hilfe der Donezker Regierung in Anspruch.

Waren sie in Gefahrensituationen?

Es gab insgesamt drei solche Situationen. Zwei solcher Situation gab es direkt in Donezk. Ich wohne dort immer im Kiewer Bezirk, der stark von den ukrainischen Beschießungen betroffen ist. Die für mich gefährlichste Situation war in Jasinowataja. Wir fahren immer auch an die Frontlinie, aber dass wir so nah dran waren, das war uns allen nicht bewusst. Die Frontlinie verschiebt sich permanent. Wir waren mit zwei Fahrzeugen unterwegs, die humanitäre Hilfe geliefert haben und wir waren alle in Lebensgefahr. Denn es kam zu einem Angriff auf diese humanitäre Mission. Das war eine haarige Situation. Wir haben uns alle ganz schön erschrocken. Die Fahrzeuge waren als Hilfstransporte gekennzeichnet. Natürlich werden solche Transporte im Donbass auch militärisch begleitet, denn ich möchte ja auch gesund wieder zurück. Wenn man unserem Verein wegen der militärischen Begleitung der „Zusammenarbeit mit dem russischen Militär“ beschuldigt, ist das weit hergeholt. Das Rote Kreuz oder Ärzte ohne Grenzen nehmen in solchen Situationen auch solch einen Schutz in Anspruch.

Warum wird Druck auf Euch ausgeübt?

Man versucht uns als Augenzeugen auszuschalten, denn wir erzählen nicht die Geschichte, wie sie in Deutschland erzählt wird. Man hat damit angefangen, dass man unserem Verein die Gemeinnützigkeit entzog. Unser Spendenkonto wurde fünf Mal gekündigt. Man versucht speziell mich zu denunzieren. Deswegen arbeite ich jetzt von Moskau aus für unseren Verein.

Wir haben über viele Jahre von der Donbass-Region aus auch Hilfsbedürftige in Dörfern auf der anderen Seite der Demarkationslinie mitversorgt. Aber die großen deutschen Hilfsorganisationen haben humanitäre Hilfe nur in den Teil des Donbass geliefert, der von der ukrainischen Armee kontrolliert wurde.

Wie haltet ihr den Kontakt zu den Spendern aufrecht?

Der Kontakt zu den Spendern ist immer da. Die Spender suchen uns. Ich kann sagen, dass die Hilfe weiter geht und dass immer wieder Spenden-Konten zur Verfügung gestellt werden. Man legt uns Steine in den Weg, aber es gibt immer wieder neue Möglichkeiten, wie andere Zahlungswege. Das Büro welches ich jetzt in Moskau habe, wurde mir kostenlos zur Verfügung gestellt. Von dem Büro aus halten wir auch Kontakt zu russischen Kriegsveteranen. Wir haben in ganz Russland Kontakte.

Sie wohnen jetzt konstant seit einem halben Jahr in Russland?

Es sind jetzt acht Monate. Ganz angekommen fühle ich mich noch nicht. Ich bin ja nicht ganz freiwillig hier. Ich bin hierhergekommen, weil es hier sicherer für mich ist. Von hier kann ich die Arbeit des Vereins weiterführen. Die Situation hatte sich während unseres humanitären Hilfstransports im Oktober 2022 zugespitzt. Während der dreiwöchigen Hilfs-Fahrt haben wir auch als offizielle Beobachter in Jasinowataja an dem Referendum zur Vereinigung der Volksrepublik Donezk mit Russland teilgenommen. In diesem Zeitraum bis zu dem geplanten Rückflug nach Deutschland, häuften sich die Angriffe gegen mich, die Zeitungsartikel und die Anzeigen. Man hat mir geraten, lieber in Moskau zu bleiben.

Freunde von ihnen haben ihnen geraten?

Nicht nur Freunde, auch andere Personen. Niemand in Deutschland hat gesagt, das kriegen wir wieder hin.

Das Interview führte Ulrich Heyden in Moskau am 6. Mai 2023

veröffentlicht in: Overton Magazin

Teilen in sozialen Netzwerken
Im Brennpunkt
Bücher
Foto