Hoher Kreml-Beamter sieht "Anfang vom Ende der Ukraine" (Telepolis)
09. April 2021 Ulrich Heyden
Massiver Truppenaufmarsch beiderseits der ukrainisch-russischen Grenze
Am Donnerstag kam eine Warnung aus dem Kreml, wie sie es seit der heißen Kriegsphase 2014/15 nicht mehr gegeben hatte. Wenn Kiew militärische Handlungen im großen Maßstab im Donbass beginne, dann sei das "der Anfang vom Ende" der Ukraine, erklärte Dmitri Kosak, stellvertretender Leiter der russischen Präsidialverwaltung, gegenüber der Zeitung Kommersant.
Zum Aufgabenbereich Kosaks gehören die ehemaligen sowjetischen Nachbarrepubliken. Wenn die Ukraine einen Großangriff auf die Volksrepubliken starte, dann sei das "kein Schuss ins Bein, sondern in die Schläfe". Russland wolle "kein Territorium erobern", Russland wolle an seiner Grenze einen "freundlich gesonnenen, friedlichen und stabilen Staat".
Diese harte Warnung - ja fast Drohung - eines hohen Kreml-Beamten hat damit zu tun, dass Kiew in den letzten Tagen und Monaten die militärische Konfrontation verschärft und öffentlich erklärt hat, dass das 2015 ausgehandelte Minsker Abkommen zur Lösung der Krise im Donbass für die Ukraine keinerlei Nutzen hat.
Das Minsker Abkommen sieht vor, zunächst Wahlen unter internationaler Aufsicht in den Volksrepubliken abzuhalten und dann die Kontrolle der Grenze zwischen den Volksrepubliken und Russland ukrainischen Grenzorganen zu übergeben. Kiew dagegen fordert immer stärker erst die Kontrolle über Grenze zu Russland und dann würde es Wahlen in Lugansk und Donezk geben.
Die Volksrepubliken und Russland wollen dieses Verfahren nicht akzeptieren, weil sie nach der Übernahme der Kontrolle über die Grenze durch ukrainische Organe Racheaktionen ukrainischer Militärs und nationalistischer Bataillone gegen Vertreter der Volksrepubliken und ihrer Machtorgane fürchten.
Sogar Minsk als Ort, wo seit 2015 über die Umsetzung des Minsker Abkommens verhandelt wird, will Kiew nicht mehr akzeptieren, da es dort "starken russischen Einfluss" gibt. Stattdessen schlägt Kiew Polen als Land vor, wo man verhandeln könne.
Diplomatie am Ende
Russland sei bei einem ukrainischen Großangriff gezwungen, seine Bürger zu schützen, erklärte Dmitri Kosak.
Von 3,6 Millionen Einwohnern der Volksrepubliken Donezk und Lugansk (DNR und LNR) haben bereits 600.000 einen russischen Pass. Wladimir Putin hatte im April 2019 - kurz nach der Wahl von Selenski zum Präsidenten - eine vereinfachte Ausgabe russischer Pässe für die Bürger der Volksrepubliken angeordnet.
In den letzten Tagen hatte sich der Ton der Volksrepubliken und Russlands gegenüber der Ukraine deutlich verschärft. Der Leiter der Volksrepublik Donezk, Denis Puschilin, hatte am 7. April erklärt, wenn die Ukraine die Volksrepubliken angreife, würden die DNR- und LNR-Soldaten - unterstützt durch Freiwillige aus Russland - nicht nur die Volksrepubliken verteidigen, sondern weiter in die Ost-Ukraine vorstoßen.
In der Südostukraine ist ein großer Teil der Bevölkerung russischsprachig und russischstämmig. Im Südosten der Ukraine hat die Russland-freundliche "Oppositionsplattform" ihre größte Anhängerschaft. Bei den Präsidentschaftswahlen 2019 bekam die Oppositionsplattform landesweit elf Prozent der Stimmen.
Erst "Fake News" - dann traurige Wahrheit
In der Volksrepublik Donezk stehen vor einem Haus im Gebiet Jasinowata, nicht weit von der "Kontaktlinie" zur Zentralukraine, ältere Frauen. Eine von ihnen ruft einem russischen Fernsehkorrespondenten mit verzweifelten Gesicht zu, "die sollen endlich mit dem Beschuss aufhören".
Derweil decken Dachdecker das Dach des mehrgeschossigen Hauses, in dem die Frauen wohnen. Es ist nicht das erste Mal, dass das Dach neu gedeckt wird. An der Frontlinie werden seit 2014 häufig Häuser neu gedeckt und Fenster neu eingesetzt.
Es sind vor allem Zivilisten die in diesem Krieg sterben. Am 2. April wurden dem fünfjährigen Wladislaw Dmitrijew im Dorf Aleksandrowskoje (russische Schreibweise) nicht weit von der Stadt Enakijewo durch einen von einer ukrainischen Drohne abgeworfenen Sprengsatz beide Beine abgerissen. Derartige Angriffe kleiner Drohnen gehören zum Terror der ukrainischen Armee gegen die Zivilbevölkerung.
Die ukrainischen Medien bezeichneten die Meldung von dem getöteten Jungen aus Aleksandrowskoje als Fake News. Auch der von Gasprom finanzierte liberale Radio-Sender Echo Moskau zweifelte an, dass der fünfjährige Wladislaw von einer ukrainischen Drohne getötet wurde.
Am 7. April wurde im Programm "60 Minuten" des russischen Fernsehkanals Rossija 24 gezeigt (ab Minute 13:22), wie OSZE-Beobachter den Hof vor dem Haus, in dem der Junge wohnte, untersuchten und Explosionsspuren ausmaßen. Das Ergebnis der Untersuchung konnte man im OSZE-Bericht vom 6. April nachlesen. Demnach war im Dorf Aleksandrowskoje "ein Kind durch Splitter- und Explosionsverletzungen gestorben". Wodurch die Explosion hervorgerufen wurde, schreibt die OSZE nicht.
Schon seit 2016 setzt die ukrainische Armee kleine bewaffnete Drohnen gegen die Zivilbevölkerung ein. Es ist ein kleiner, stiller Krieg, denn die Opfer, die diese Drohnen verursachen, tauchen nicht in den Schlagzeilen westlicher Medien auf. Hier ein Video von einer im September 2016 von der Lugansker Volkspolizei abgefangenen bewaffneten ukrainischen Drohne (ab Minute 1:25).
Über 100 Kinder sind in den Volksrepubliken durch Kriegshandlungen seit 2014 gestorben. Im Schors-Park der Stadt Lugansk gibt es sogar ein Denkmal aus kleinen Engeln für die getöteten Kinder und junge Bäume, die zum Andenken an die Getöteten gepflanzt wurden.
Truppenaufmarsch beiderseits der russisch-ukrainischen Grenze
Seit Tagen findet man in dem bei Russen populären Messaging-Dienst "Telegramm" Videos, welche die Verlegung von russischen Panzern und Schützenpanzern (hier und hier) und Flugabwehrgeschützen via Eisenbahn Richtung ukrainischer Grenze belegen sollen.
Auf den Videos fehlen allerdings Angaben über Ort und Datum der Aufnahmen. Auf einigen Videos sind aber russische Autokennzeichen und Schriftzeichen zu sehen. Die Bäume auf den Videos sind kahl, was darauf hindeutet, dass die Aufnahmen aktuell sind. Ein Video zeigt auch die Verlegung von russischen Panzern auf der Brücke Richtung Krim. Ein stichhaltiger Beweis, dass Russland die Ukraine überfallen will, sind diese undatierten Video-Schnipsel nicht.
Es gibt auch Aufnahmen von der Verlegung ukrainischer Militärtechnik Richtung Donbass. Hier ein Video, das angeblich aus der ostukrainischen Stadt Charkow stammt. Und hier ein Video von einem Aufmarschplatz, angeblich in der Ost-Ukraine, mit Hunderten von gepanzerten ukrainischen Militär-Fahrzeugen und sehr langen Reihen von Soldaten, die für irgendetwas anstehen.
Putins-Sprecher: "Russische Streitkräfte dort, wo es sinnvoll ist"
Die zahlreichen Videos und Fotos über die Verlegung von russischem Militärgerät, aufgenommen offenbar von Internet-Usern, haben den Kreml dann aber doch zu einer Stellungnahme veranlasst. Dmitri Peskow, der Sprecher von Wladimir Putin, erklärte, "die russischen Streitkräfte befinden sich dort auf dem Territorium der Russischen Föderation, wo es nötig und sinnvoll ist". Der Kreml-Sprecher erklärte weiter "Russland bedrohte und bedroht niemanden".
Peskow wies zudem darauf hin, dass es an der Grenze zu Russland eine "erhöhte Aktivität" von Streitkräften "anderer Länder" gibt. Damit war wohl auch die Bundeswehr gemeint, die zurzeit in Litauen mit der 1. Panzerdivision aus Oldenburg die Verantwortung für die Nato-Mission Enhanced Forward Presence hat.
Erstaunliche Fotos veröffentlichte eine russische Recherchegruppe, das sogenannte Conflict Intelligence Team (CIT). Das Team, das von russischen Patrioten als verlängerter Arm des Westen verdächtigt wird, ist sich sicher, dass das russische Militär 170 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt im Gebiet Woronesch ein neues, großes Militärlager mit Zelten und Küchen eingerichtet hat. Veröffentlichte Luftnahmen zeigen eine große Zahl von Lastwagen und Panzern.
Der Oberkommandierende der ukrainischen Armee, Ruslan Chomtschak, erklärte am 30. März im ukrainischen Parlament, Russland habe Truppen entlang der ukrainischen Grenze zusammengezogen. Russische Armeeeinheiten sammelten sich nahe der russischen Städte Brjansk und Woronesch. Im südrussischen Rostow am Don gäbe es eine "große russische Militäreinheit", "die in ein, zwei Tagen" bereit sei für einen Angriff auf den Donbass.
Nach Angaben des ukrainischen Oberkommandierenden haben die Streitkräfte der "Volksrepubliken" DNR und LNR 28.000 Personen unter Waffen. Anfang des Jahres seien größere Mengen an Treibstoff und Munition in die DNR und LNR gebracht worden. In seiner Rede im ukrainischen Parlament erklärte der Oberkommandierende, "unser gemeinsames Ziel ist der Sieg im Krieg, die Sicherung eines stabilen Friedens und die territoriale Integrität. Das erfordert die Konzentration der Kräfte des gesamten Volkes". In der Ukraine ist eine Mobilisierung der Reservisten geplant.
Nato lädt Ukraine zu sieben Manövern im Jahr 2021 ein
Während die Zuspitzung zwischen der Ukraine und Russland in Deutschland zum Teil mit Sorge kommentiert wird, können sich die Kriegstreiber in der Ukraine auf Politiker in den USA, Großbritannien und Kanada und in der Nato-Führung verlassen. Von dort gab es in den letzten Tagen immer wieder Erklärungen, man werde der Ukraine bei einer "russischen Aggression" beistehen.
Am Mittwoch traf sich der ukrainische Präsident Wolodymir Selenski in Kiew mit dem Vorsitzenden des Militär-Komitees der Nato, Stewart Peach. Dieser hatte sich zuvor bereits mit dem Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte getroffen.
Über den von Präsident Selenski immer wieder vorgebrachten Wunsch, doch möglichst bald der Nato beitreten zu können, gibt es bisher keine positive Antwort. Aber seit dem Staatsstreich in Kiew 2014 gibt es eine enge militärische Zusammenarbeit und gemeinsame Manöver der ukrainischen Armee mit Nato-Staaten.
In diesem Jahr ist die Ukraine gleich zu sieben Nato-Manövern eingeladen, berichtete das ukrainische Verteidigungsministerium. Es handelt sich um die Manöver Steadfast Cobalt, Ramstein Apex, Ramstein Ambition, Steadfast Defender, Noble Bonus, Steadfast Jupiter, Steadfast Leda. Dass diese Manöver Russland zeigen sollen, wer der Herr in Osteuropa ist, ist offensichtlich.
Ukrainische Abgeordnete: "Man muss dieses Land verlassen"
Als der ukrainische Oberbefehlshaber Ruslan Chomtschak am 30. März im ukrainischen Parlament seine "Sieges"-Rede hielt, tippte Anna Kolesnik, eine junge Abgeordnete der Selenski-Partei "Diener des Volkes", in ihr Handy zwei Chat-Zeilen: "Wir hören Chomtschak", "Man muss dieses Land verlassen".
Fotojournalisten hatten die Zeilen der Abgeordneten veröffentlicht und die junge Abgeordnete wurde in der Öffentlichkeit sofort nicht-patriotischer Neigungen verdächtigt.
Der Vorsitzende der Selenski-Partei "Diener des Volkes", Aleksandr Kornienko, wollte den Stab über die Abgeordnete noch nicht brechen. Anna Kolesnik sei als "ausreichend patriotische Person" bekannt. Man werde den Fall aber untersuchen.
veröffentlicht in: Telepolis