Agrar-Unternehmer Grudinin sorgte für moderne Wohnhäuser in der Lenin-Sowchose. Bild: Ulrich Heyden
Richtig eng wurde es für den Sowchos-Chef Grudinin am 6. Juli 2020 als ein Moskauer Schiedsgericht ihn zu 12 Millionen Euro Strafe verurteilte. Der Grund: Der Agrar-Unternehmer habe die Sowchose vor elf Jahren angeblich durch den zu billigen Verkauf eines Grundstücks an ein schwedisches Möbelhaus geschädigt.
Der Kreml reagiert nicht auf die Attacken. Offenbar hofft man einen Konkurrenten loszuwerden, der bei der Präsidentschaftswahl 2018 elf Prozent der Stimmen bekam und auch bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2024 für die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) antreten könnte.
Welche Gefahr droht der Lenin-Sowchose jetzt?
Pawel Grudinin: Die Sowchose wurde 1918 gegründet. Unser Unternehmen befindet sich zwischen Moskau und dem Moskauer Gebiet. Hier gibt es für die Baufirmen den interessantesten Boden. Der Staat schützt leider nicht solche Kolchosen und Sowchosen wie unsere. Der Staat arbeitet mehr im Interesse der Raider, also denen, die sich den Boden hier unter den Nagel reißen wollen. Wir sind die einzige Sowchose, die sich noch entlang der Moskauer Stadtautobahn befindet und landwirtschaftliche Produkte herstellt.
Wir verteidigen ständig unseren Boden. Es gab schon sechs Attacken von Raidern auf uns. Die sechste Attacke, die schon zweieinhalb Jahre läuft, ist die stärkste. Auf der Seite der Raider stehen die Polizei und die Gerichte. Alle ihre Tätigkeiten zielen darauf ab, die Sowchose in den Bankrott zu treiben, die Mitarbeiter zu entlassen und sich den Boden anzueignen.
Haben Sie eine Hoffnung?
Pawel Grudinin: Wir haben wegen der falschen Entscheidung der Richter gegen uns zwei Klagen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg eingereicht. Wir hoffen auf dieses Gericht. Wir haben nur zwei Möglichkeiten, die Hände in den Schoß zu legen, sich zu erschießen oder weiterzukämpfen. Im Grunde kann die Macht in Russland jeden Geschäftsmann, dessen Geschäft gut läuft, ins Gefängnis bringen. Das läuft so: Die Raider und die Gerichte beschuldigen einen Unternehmer. Er wird ins Gefängnis gesteckt und das Geschäft wird ihm abgenommen. Danach wird er freigelassen. Mich kann man aber nicht einsperren.
Warum beteiligen sich auch Gerichte an dem Kesseltreiben gegen sie?
Pawel Grudinin: Unser Betrieb ist ein zu gutes Beispiel. Nach diesem Beispiel könnte man ganz Russland aufbauen. Wir haben gute wirtschaftliche Resultate. Vieles bei uns hängt von der Macht ab. Sie sagt, dieses Beispiel ist zu gut. Es muss vernichtet werden.
Können Sie sich an Putin wenden?
Pawel Grudinin: Das ist nicht möglich. Putin können Sie nicht in einem Lebensmittelgeschäft treffen. Merkel schon. Wir wollen, dass man sich in Russland gegenüber russischen Geschäftsleuten so verhält, wie gegenüber den deutschen Geschäftsleuten. Ausländische Geschäftsleute sind Investoren. Vor ihnen öffnen sich alle Türen. Kein russischer Farmer bekommt solche Privilegien wie der deutsche Farmer Stefan Dürr. Er wird sogar von Putin zum Tee geladen.
Alle russischen Geschäftsleute wissen, wenn der Staat es will, landet man im Gefängnis. 400 landwirtschaftliche Betriebe gab es im Moskauer Umland. Alle wurden zerstört. Die Beamten und die Raider arbeiten zusammen.
Warum wird bei uns so viel Metallschrott verarbeitet? Raider kaufen mit Hilfe von Beamten Fabriken auf und lassen sie zerlegen. Wir produzieren schon nichts mehr. Es gibt viele Arbeitslose. Der neue Trend sind jetzt die Ein-Mann-Unternehmen.
Die Regierung hat angeordnet Importe durch eigene Lebensmittel zu ersetzen. Gleichzeitig steigt in Russland aber der Import von Palmöl, dass bei der Lebensmittelproduktion eingesetzt wird.
Warum haben die Gerichte so schnell hintereinander Urteile zu Ihren Ungunsten gefällt?
Pawel Grudinin: Mit der Vorbereitung der nächsten Wahl beginnt man direkt nach der gelaufenen Wahl.
Werden Sie noch einmal zu Wahlen kandidieren?
Pawel Grudinin: Ich werde in jedem Fall kandidieren, wenn die KPRF mich aufstellt.
Es ist nicht gerade typisch, dass ein Unternehmer für eine Kommunistische Partei kandidiert.
Pawel Grudinin: Das gab es immer schon. In Deutschland gibt es eine sozialistische Partei. Und in dieser Partei sind auch Unternehmer. Die Manager von Gasprom und Rosneft werden niemals in eine Sozialistische Partei eintreten. Aber in Schweden, Norwegen und Deutschland gibt es eine große Zahl von kleinen und mittleren Unternehmern in den sozialistischen Parteien. Sie unterstützen sozialistische Prinzipien.
Was sind für Sie sozialistische Prinzipien?
Pawel Grudinin: Wenn der Reiche mehr Steuern zahlt und mehr in soziale Projekte investiert als der Arme. Wenn die Armen überhaupt keine Steuern zahlen. Wenn die natürlichen Reichtümer nicht einer Gruppe von Oligarchen gehören, sondern dem ganzen Volk. Wenn dieser Reichtum zwischen allen geteilt wird. Wenn die Bildung und die Gesundheitsversorgung kostenlos sind.
Nach meiner Meinung ist Deutschland ein sozialistischeres Land als Russland. Sehen Sie in Deutschland Rentner, die im Müll wühlen? Es gibt in Russland Menschen, die aus Geldmangel nicht zur Beerdigung ihres Bruders reisen können.
In Russland gab es während der Pandemie keine finanziellen Hilfen des Staates für die Bevölkerung. In Deutschland schon. In Russland liegt der Mindestlohn bei 120 Euro und die Mindestrente bei 70 Euro im Monat. Die maximale Rente in Russland beläuft sich auf 300 Euro.
Was die Menschen in Russland böse macht, ist die Ungerechtigkeit. Die russischen Beamten bekommen ein hohes Gehalt und hohe Renten. Ein Lehrer oder Arzt bekommt nur eine minimale Rente. Im Volk gibt es eine starke Sehnsucht nach der Sowjetunion. Nach 30 Jahren haben die Menschen verstanden, dass es in dem Land, welches sie verloren haben, mehr soziale Garantien gab.
Es gibt Leute, die sagen, mit Lenin habe der politische Terror in Russland begonnen.
Pawel Grudinin: Wissen Sie, in Russland wird ständig die Geschichte umgeschrieben. Wir wissen, dass Lenin ein guter Mann war, und das wurde auch von Denkern aus dem Ausland, wie dem englischen Schriftsteller Herbert Wells, bestätigt. Dank Lenin und seinen Nachfolgern wurde Russland eine große Macht. Was machte Lenin? Er erließ Dekrete zur Elektrifizierung, zum Achtstundentag, zum Schwangerschaftsurlaub, zum kostenlosen Urlaub für Werktätige. China hat seine Geschichte nicht umgeschrieben. Es wurde die größte Wirtschaftsmacht und es hat ein Wirtschaftswachstum, von dem Russland nur träumen kann.
Wollen Sie die Planwirtschaft?
Pawel Grudinin: Natürlich will ich die Planwirtschaft. In Deutschland gibt es übrigens eine Planwirtschaft. In Deutschland gibt es für Bauern Garantien für den Absatz der Produkte, Hilfen für Ernteausfälle, Möglichkeiten etwas gegen die Handelsketten zu machen. Ich war in Deutschland und habe in Berlin eine Demonstration von Bauern gesehen, die gegen den Fall des Milchpreises protestierten. Der Landwirtschaftsminister hat Hilfe versprochen.
Viele Menschen in Deutschland sind der Meinung, dass Sozialismus den Verlust von individueller Freiheit bedeutet.
Pawel Grudinin: Gucken Sie nach Ostdeutschland. Mir scheint, dort sind die Menschen von der Freiheit enttäuscht, obwohl sie viel besser leben als wir. Früher oder später wird Deutschland den Weg von Norwegen und Schweden gehen, wo es schon mehr Sozialismus gibt als in unserem Land.
Sie haben wahrscheinlich gehört, dass amerikanische Millionäre und Milliardäre den Staat während der Pandemie aufforderten, die Steuern für sie zu erhöhen. Warum? Die Reichen müssen Geld an den Staat abgeben, damit dieser das Geld an die Armen gibt. Sonst gibt es eine revolutionäre Explosion. Der Abstand zwischen Armen und Reichen hat sich zu sehr vergrößert. Es entsteht eine revolutionäre Situation, welche die Reichen hinwegfegen wird. Es wird keinen Platz mehr geben, wohin sie flüchten können. Man wird sie enteignen.
In der Sowjetunion gab es eine sozialistische Balance. Der Generalsekretär lebte natürlich gut. Aber er lebte nicht viel besser als der Held der Arbeit, der jeden Tag arbeitete.
Ich denke, was unsere beiden Länder einigt, ist der Wunsch nach Gerechtigkeit. Wer viel arbeitet, verdient etwa so viel wie ich. Wer wenig arbeitet, soll auch weniger verdienen. Jeder soll nach seiner Leistung bezahlt werden.
Wodurch wurde Ihr Unternehmen bekannt?
Pawel Grudinin: Die Menschen wissen, wenn sie gute Erdbeeren kaufen wollen, müssen sie zur Lenin-Sowchose fahren. Wir haben in diesem Jahr 1.100 Tonnen Erdbeeren geerntet. Wir haben Äpfel-Plantagen. Wir produzieren Milch, Wasser und Säfte.
Wer sind Ihre Kunden?
Pawel Grudinin: Alle unsere Produkte verkaufen wir in Moskau und im Moskauer Gebiet. Für die Moskauer sind unsere Produkte die frischesten. Aber ich sah unsere Säfte auch schon in New York in einem Geschäft am Brighton Beach (dort leben viele russische Einwanderer, U.H.).
Wir habe eine effektive Produktion. Eine Kuh liefert bei uns im Jahr 13.000 Liter Milch. Bei uns wird mit Automaten gemolken. Mit unserer Milch beliefern wir auch die deutsche Firma Ehrmann. Sie hat in 30 Kilometer Entfernung eine Niederlassung. Um die Ehrmann-Joghurts nach China exportieren zu können, wurde unsere Milch jetzt zertifiziert. Wir liefern auch an Firmen, die qualitativ hochwertigen Käse, Mozzarella und Burrata, herstellen.
Man sagt Ihr Unternehmen sei sozialistisch. Was bedeutet das konkret?
Pawel Grudinin: Wir haben nicht das zerstört, was es in der Sowjetunion gab. Wir haben 30 Aktionäre in unserem Unternehmen. Wir zahlen ihnen aber keine Dividenden. Die Gewinne werden investiert in die Erhöhung der Löhne, die Modernisierung der Produktion und die sozialen Garantien für Kinder und Rentner.
In unserem Unternehmen gibt es die gleichen sozialen Garantien für die Arbeiter wie vor 30 Jahren. Ich begann 1982 in der Sowchose zu arbeiten. 1986 bekam ich als Mitarbeiter ein Häuschen. Die Hälfte des Hauses bezahlte die Sowchose, die andere Hälfte bezahlte ich. Das Unternehmen gab mir einen Kredit. Diese Leistung haben wir für unsere Mitarbeiter erhalten. Sie zahlen 15 Jahre für ihre Wohnung. Dann werden sie Eigentümer.
Familien mit sechs Kindern bekommen bei uns eine Wohnung umsonst. Junge Mütter bekommen drei Jahre lang finanzielle Hilfen. Ein Rentner bekommt vom Staat eine Rente in Höhe von 178 Euro im Monat. Die Sowchose zahlt ihm nochmal monatlich 47 Euro dazu. In der Schule gibt es für die Kinder der Sowchose das Essen umsonst. Wenn es einen guten Lohn gibt, dann gehen die Arbeiter nicht woanders hin. Wir haben in unserem Betrieb keine Fluktuation.
Das Interview führte Ulrich Heyden am 25. Juli 2020 auf der Lenin-Sowchose.
(Ulrich Heyden)
veröffentlicht in: Telepolis