Ist der weißrussische Blogger Roman Protasewitsch kein Freiheitsheld, sondern ein verkappter Nazi? (Nachdenkseiten)
29. Mai 2021 um 9:13Ein Artikel von Ulrich Heyden | Verantwortlicher: Redaktion
Nachdem der weißrussische Blogger Roman Protasewitsch am 23. Mai zusammen mit seiner Freundin Sofia Sapega mit einer Passagiermaschine der Fluggesellschaft Ryan Air in Minsk landete und zusammen mit seiner Freundin verhaftet wurde, meinen deutsche Politiker und die großen deutschen Medien, sie hätten einen erneuten Beweis gefunden für die brutale Unterdrückung der Protestbewegung gegen Lukaschenko. Die mit einer fingierten Bombenwarnung erzwungene Landung einer Passagiermaschine ist menschlich gesehen eine äußerst heikle Angelegenheit. Denn man versetzt unschuldige Passagiere in Todesangst. Allerdings ist die Aufregung um den verhafteten Blogger unglaubwürdig. Denn man verteidigt einen Mann, der aller Wahrscheinlichkeit nach ein Rechtsradikaler ist. Protasewitsch hielt sich 2014/15 ein Jahr lang im rechtsradikalen ukrainischen Bataillon Asow auf. Das Bataillon kämpft gegen russlandfreundliche Separatisten in der Ost-Ukraine. Was Protasewitsch in dem Bataillon machte, ist bisher nicht klar. War er Mitglied einer Einheit von Ausländern, die es bei Asow gibt, Polit-Instrukteur oder Journalist? Von Ulrich Heyden.
Das Asow-Bataillon – Stoßtrupp der Maidan-Revolution im Südosten der Ukraine
In den letzten Tagen tauchten im Internet und Fotos und Interviews auf, nach denen Protasewitsch nicht der mutige Blogger war, der von Warschau aus über seinen Nexta-Kanal die Proteste in Weißrussland steuerte, sondern ein knallharter weißrussischer Nationalist, möglicherweise sogar Faschist.
Im Asow-Bataillon, das sich besonderer Entschlossenheit rühmt, dienen vorwiegend Rechtsradikale. Die Soldaten des am 4. Mai 2014 von dem Rechtsradikalen Andri Bilezki in der südostukrainischen Hafenstadt Mariupol gegründeten Bataillons tragen als Erkennungszeichen eine NS-Rune, die im Zweiten Weltkrieg das Symbol der SS-Panzer-Division „Das Reich“ war. Die Division kämpfte 1941 in der Ukraine und danach vor Moskau.
Die Finanzierung des Bataillons übernahm der ukrainische Oligarch Igor Kolomoiski. 2014 war das Bataillon beteiligt an den gewaltsamen „Säuberungen“ der Stadt Mariupol von „Verdächtigen“ und Bürgern, die sich der neuen Macht in Kiew nicht unterordnen wollten. Im Oktober 2014 wurde das Bataillon Asow vom ukrainischen Innenminister Arsen Awakow in die ukrainische Nationalgarde eingegliedert.
Titelblatt des Asow-Journals „Schwarze Sonne“ mit „Blogger aus Weißrussland“?
Der Erste, der belastendes Material gegen Protasewitsch publizierte, war der im spanischen Exil lebende ukrainische Blogger Anatoli Schari. Er veröffentlichte am 25. Mai 2021 auf seinem Video-Kanal das Titelblatt des Asow-Journals „Schwarze Sonne“ vom 3. Juli 2015. Auf diesem Titelblatt ist ein junger Mann in voller Asow-Kampfmontur mit automatischer Waffe zu sehen. Und dieser junge Mann sieht Protasewitsch verdammt ähnlich.
Einen Tag nach der Veröffentlichung durch Schari erklärte der Gründer des Asow-Bataillons und jetzige Leiter des „Nationalen Korpus“, Andri Biletzki, in seinem Telegram-Kanal, „ja, Roman hat wirklich mit Asow und anderen militärischen Einheiten gegen die Okkupation der Krim gekämpft. Er war mit uns in Schirokino, wo er verletzt wurde. Aber seine Waffe war nicht das Maschinengewehr, sondern das Wort.“ Aus dieser Erklärung kann man den Schluss ziehen, dass Protasewitsch im Asow-Bataillon so etwas wie ein politischer Instrukteur, Journalist oder beides war. Nicht ausgeschlossen ist, dass er eine militärische Grundausbildung erhielt.
Der Vater von Protasewitsch erklärte gegenüber dem Kiewer Kanal Nastojaschaja Wremja über seinen Sohn, „er war 2014 im Donbass und hat auf der Seite der ukrainischen Armee gekämpft“. Doch nachdem sein Sohn verhaftet wurde, erklärte der Vater, sein Sohn habe im Donbass nur als Journalist gearbeitet.
Roman Protasewitsch selbst erklärte im September 2020 gegenüber dem russischen Blogger Juri Dud, dass er ein Jahr lang im Kriegsgebiet in der Ost-Ukraine war. Dort habe er als freier Journalist Video-Aufnahmen gemacht. Auch sei er an der Front verletzt worden. An Kampfhandlungen habe er sich aber nicht beteiligt.
Ein Kämpfer mit dem Tarnnamen „Kim“
Hinweise auf die Motive, warum Protasewitsch in die Ost-Ukraine ging, lieferte die weißrussische Zeitung „Nascha Niwa“. Sie veröffentlichte ein Interview mit einem Kämpfer des Asow-Bataillons, der den Tarnnamen „Kim“ trägt. Ein Foto neben dem Interview zeigt einen jungen Mann in voller Kampfausrüstung mit einem automatischen Gewehr über der Schulter. Das Gesicht des Kämpfers war unkenntlich gemacht worden. Inzwischen tauchte das Original des Fotos jedoch im Internet auf. Das Gesicht des Kämpfers ist dem Gesicht von Roman Protasewitsch verblüffend ähnlich. Handelt es sich beim Original-Foto um eine Fälschung und oder ist es wirklich das Original? Diese Frage ist noch nicht erklärt.
In dem Interview erklärt „Kim“, er sei am 22. März 2015 in der Ost-Ukraine verletzt worden. „Beim Dorf Schirokino bei Mariupol kam ich unter Granatwerfer-Beschuss des Gegners und wurde durch einen Splitter verletzt. Aber schon nach einem Monat war ich wieder im Einsatz“.
Über seine Motivation, im Asow-Bataillon zu kämpfen, erklärte „Kim“, „Erstens, in meinen Adern fließt ukrainisches Blut, meine Verwandten waren Ukrainer. Zweitens geht es um eine Blutrache an den Kommunisten. Nicht wenige unschuldige Menschen wurden getötet, in Gefängnisse geworfen und verbannt. Auch meine Familie traf dieses Unglück. Und jetzt zeigt Russland als Rechtsnachfolger der „Sowka“ (abwertender Begriff für den sowjetische Alltag) Aggressivität und rutscht an den roten Abgrund. Drittens geht der Krieg nicht nur um die Ukraine, sondern auch um Weißrussland. Wenn man die russische Horde jetzt nicht stoppt, kann unser Land das nächste sein … Meine Fahrt in den Krieg war wohlüberlegt und abgewogen.“
40 Kämpfer aus Weißrussland
Weiter erzählte „Kim“, dass sich im Donbass 40 Kämpfer aus Weißrussland befänden. „Wir sind alle Nationalisten im guten Sinne des Wortes.“ Weiter sagt Kim: „Ich bin Anhänger einer begrenzten Demokratie. Ich habe nichts gegen Schwule, aber ich bin dagegen, dass sie Kinder adoptieren. Ich bin nicht gegen nationale Minderheiten, aber für die Verschärfung der Migrations-Gesetze.“ Über sein erstes Feuergefecht sagt „Kim“. „In meinem Kopf war nur ein Gedanke: Entweder Du schießt oder Du wirst erschossen. Kurz gesagt, ich bereue nichts.“
Die Zahl der Fotos, die einen Protasewitsch-ähnlichen Mann in den Reihen des Asow-Bataillons zeigen, ist erdrückend. In dem russischen sozialen Netzwerk vkontakte hat das Bataillon Fotos über eine Asow-Truppenparade am 13. Februar 2015 in Mariupol veröffentlicht. Auf den Fotos zu sehen ist der Gründer des Bataillons, der Rechtsradikale Andrej Bilezki, der ukrainische Innenminister Arsen Awakow, aber auch ein junger Mann, der Roman Protasewitsch sehr ähnlich sieht.
In den letzten Tagen tauchten im Internet weitere Fotos auf, die Protasewitsch belasten. Auf diesem Bild sieht man vermutlich Protasewitsch auf einem gepanzerten Asow-Fahrzeug. Und auf diesem Bild sieht man ihn in einem T-Shirt, der bei Neo-Nazis populären Marke Sva Stone.
Auf dem Maidan in Kiew von Anfang an dabei
Protasewitsch war offenbar bereits zu Beginn der Maidan-Proteste im Herbst 2013 in Kiew. Hier sieht man ihn mit einem breiten Lächeln neben dem abgeschlagenen Marmor-Kopf des Lenin-Denkmals in Kiew. Das Denkmal wurde am 8. Dezember 2013 gestürzt. Dem russischen Video-Blogger Juri Dud berichtete Protasewitsch 2020, dass er an den Protesten auf dem Maidan in Kiew 2014 beteiligt war.
Unklar ist bisher die Rolle der Freundin von Protasewitsch, Sofia Sapega, die mit dem „Blogger“ zusammen in Minsk verhaftet wurde. Zwei Tage nach ihrer Verhaftung tauchte im Internet ein Video auf, in dem sie erklärt, sie sei Redakteurin des Telegram-Kanals „Schwarzbuch Weißrussland“ gewesen, welches persönliche Angaben über weißrussische Polizisten veröffentlicht hat. Ob die Aussage aus freien Stücken geschah oder erzwungen wurde, lässt sich bisher nicht sagen.
Enthüllungen über Protasewitsch angeblich nur „Ablenkungsmanöver“ von „Kreml-Agenten“
Der als Ukraine-Experte in westlichen Medien häufig zitierte „Experte“ Anton Shekhovtsov meldete am 24. Mai via Facebook: „Wenn Sie es noch nicht wissen: Die Kreml-Agenten haben Instruktionen, die internationale Unterstützung für den von Lukaschenkos Somali-Regime entführten weißrussischen Oppositionsjournalisten Roman Protasevich durch zwei große Erzählungen zu unterlaufen: (1) Evo Morales, und (2) „Protasevich ist ein Neo-Nazi“.“
Shekhovtsov ist ein in Wien ansässiger politischer Experte, der in westlichen Medien häufig zu Wort kommt. Sein Forschungsgebiet sind die „europäische Rechte“, „Russlands unheilvoller Einfluss in Europa“ und „die anti-liberalen Trends in Zentral- und Ost-Europa“. Man sollte denken, ein Experte für die „europäische Rechte“ ist auch in der Lage, Rechtsradikale in Weißrussland und der Ukraine zu identifizieren. Aber nein, auf die Enthüllungen über den in Minsk festgenommenen Protasewitsch geht der Experte aus Wien nicht ein. Diese Enthüllungen sind ja nur das Werk von „Kreml-Agenten“.
Dieses Herangehen ist typisch für westliche Politiker und Think-Tanks, die nicht müde werden, Kontakte zwischen dem Kreml und der AfD und europäischen Rechtspopulisten anzuklagen, die aber seit sieben Jahren über die faschistischen Tendenzen in der Ukraine schweigen, obwohl zwei Faschisten dort höchste Posten hatten bzw. haben. Andri Parubi war von 2014 bis 2019 Parlamentssprecher und Vadim Trojan ist seit 2016 stellvertretender Innenminister.
Auch der ukrainische Filmemacher Oleg Senzow wurde als Freiheitsheld gefeiert
Es ist nicht das erste Mal, dass sich die westliche Wertegemeinschaft für Personen ins Zeug legt, die rechtsradikaler oder gewalttätiger Ansichten und Absichten überführt wurden. Es ist noch nicht lange her, da wurde der ukrainische Filmemacher Oleg Senzow, der eine Zeit lang wegen terroristischer Aktivitäten in einem russischen Gefängnis saß, von westlichen Künstlern und Politikern als Freiheitsheld gerühmt.
Nach seiner Freilassung aus der russischen Haft konnte man von Senzow auf einer Pressekonferenz in Kiew am 10. September 2019 Erstaunliches hören. Auf Fragen erklärte der Filmemacher unumwunden, dass er in seiner auf der Krim gelegenen Heimatstadt Simferopol zu einem Kreis von Menschen gehörte, in dem über Anschläge und die Bildung von Untergrundgruppen gesprochen wurde. Eine dieser Gruppen hatte einen Brandanschlag auf das in einem mehrgeschossigen Wohnhaus gelegene Büro der Partei „Einiges Russland“ ausgeführt.
In den großen deutschen Medien habe ich bisher keine Berichte über die Rolle von Protasewitsch im Asow-Bataillon gefunden. Die Geschichte des „mutigen Bloggers aus Weißrussland“ würde durch eine Erwähnung seiner Nähe zu Rechtsradikalen beschädigt, weshalb man dieses Kapitel lieber nicht berührt.
veröffentlicht in: Nachdenkseiten