22. January 2021

Jede Menge Patrioten (der Freitag)

Kirill Kudryavtsev/AFP/Getty Images
Foto: Kirill Kudryavtsev/AFP/Getty Images

Alexei Nawalny In Russland wird der Fall um den inhaftierten Oppositionellen anders wahrgenommen, als man in Deutschland glaubt

Ulrich Heyden Ausgabe 03/2021

Die schärfsten Kommentare zur Rückkehr Alexei Nawalnys kamen nicht von der Regierung. Die Oppositionsparteien in der Duma – die KP, die Liberaldemokraten, die Partei „Gerechtes Russland“ – legten sich ins Zeug. Das ist symptomatisch, der Fall Nawalny wird in Russland anders wahrgenommen, als man in Deutschland glaubt.

Es geht weniger um den widerspenstigen Oppositionellen als um einen Russen, der sich in aller Öffentlichkeit mit westlichen Regierungen einlässt, in Deutschland beste Hotels bewohnt und in Regierungslimousinen durch die Gegend chauffiert wird.

Wladimir Schirinowski, Vorstand der Liberaldemokraten, will Nawalny für Jahre im Gefängnis verschwinden sehen. KP-Chef Gennadi Sjuganow glaubt, Ziel Nawalnys sei es, die russische Realität „in den Dreck zu ziehen“ und einen „neuen, jungen Jelzin“ an die Macht zu lotsen. Der werde „noch Schlimmeres“ zustande bringen als Boris Jelzin in den 1990ern, als Russland dem Ruin ins Auge sah. Selbst das liberale Massenblatt Moskowski Komsomolez ist erstaunt, wie Nawalny seinen Gegnern in Russland das Spiel erleichtert. Wenn er im Spiegel-Gespräch gefragt werde, ob Deutschland die Gastrasse Nord Stream 2 stoppen solle, warum antworte er dann, „das ist Sache Deutschlands. Entscheidet selbst“? Die Pipeline sei „kein Spielzeug von Putin“, sondern werde im „nationalen Interesse Russlands“ verlegt, schreibt die Zeitung.

Freilich sollte, wer anderen unpatriotisches Verhalten ankreidet, selbst strengen Maßstäben gerecht werden. Ist es etwa patriotisch, wenn in Russland das Renteneintrittsalter erhöht, Krankenhäuser zusammengelegt und medizinisches Personal oft schlecht bezahlt wird? Wie patriotisch kann es sein, wenn Spitzenbeamte Nebeneinkünfte auf Konten von Familienmitgliedern parken? Und überhaupt, warum nimmt die Vetternwirtschaft kein Ende, obwohl ständig das Gegenteil versprochen wird? Es stellt sich die Frage, warum der Kreml glaubt, man könne Nawalny und seinen „Fonds zum Kampf gegen die Korruption“ allein mit juristischen Mitteln zu Fall bringen. Wäre es nicht angebracht, würden sich besonders staatliche Medien offensiv mit Nawalnys Agenda – Korruption und Machtmissbrauch – beschäftigen, statt diese Gebrechen auszublenden?

Unabhängige Linke wie Boris Kagarlitzky sehen Nawalny als ein Phänomen, das sich Putins repressiver Herrschaft verdankt. Er verweist auf Fälle wie den des jungen Mathematikers Asat Miftachow, der zu sechs Jahren Arbeitslager verurteilt wurde, weil er ein Fenster am Büro der Regierungspartei „Einiges Russland“ einschlug. Der Soziologe Kagarlitzky will nicht ausschließen, dass Nawalny im August während des Aufenthalts in Tomsk von zwei Gruppen des Geheimdienstes beschattet wurde. Eine habe ihn beobachtet, die andere vergiftet, um Putin zu schaden. Die Aktion gehe vermutlich auf Oligarchen zurück, die einen neuen Präsidenten wollen, um westliche Sanktionen loszuwerden. In einem Moment, da alle Duma-Parteien Nawalny als „Verräter“ brandmarken, gehört Mut dazu, darauf zu beharren, dass der Giftanschlag aufgeklärt wird. Kagarlitzky und Leonid Kalaschnikow, KP-Abgeordneter in der Duma, tun das. Russland müsse den Fall selbst untersuchen, sonst werde es „merkwürdig“. Diese Forderung ist nicht ohne Risiko und verdient gewürdigt zu werden, auch wenn sie jenseits der Wahrnehmung westlicher Korrespondenten erhoben wird.

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