Kalt-heiße Nächte auf dem Maidan
Bei der Konfrontation in der Ukraine setzen EU und gemäßigte Kräfte auf Dialog. Doch längst nicht alle sind dazu bereit.
Von Ulrich Heyden, SZ-Korrespondent in Moskau
Straße um Straße arbeitete sich die ukrainische Polizei seit gestern Nacht im Stadtzentrum von Kiew vor und baute Barrikaden ab. Nachdem am 30. November ein brutaler und überfallartiger Polizeieinsatz gegen ein paar Hundert Besetzer auf dem Maidan eine riesige Protestwelle in Kiew auslöste und sich die ukrainische Führung auch gegenüber westlichen Politikern rechtfertigen musste, ging die Polizei bei der Räumung geschickter vor. Auf Knüppeleinsätze wurde verzichtet. Die Besetzer wurden abgedrängt.
Die Sicherheitskräfte gingen dabei offenbar nach einem genau ausgearbeiteten Plan vor. Zu diesem Plan gehörte die Sperrung von Metro-Stationen rund um den Maidan wegen angeblicher Bombenwarnungen und die Beschlagnahmung von Computern im Büro von Julia Timoschenkos Partei „Vaterland“. Die Staatsanwaltschaft hatte gegen die Oppositionsführer ein Verfahren wegen eines Umsturzversuches eingeleitet. Es wurde offenbar Beweismaterial gesucht.
Allerdings kann die Staatsmacht bei Bedarf auch anders: Bewaffnete Uniformierte drangen am Montagabend in die Räume der Zeitung Wetschirni Wisti, des Internet-Fernsehsenders INTV und der Nachrichten-Webseite Censor.net ein – allesamt Medien, die der Opposition nahestehen. Ohne sich zu legitimieren, beschlagnahmten sie dort Technik und Ausrüstung und zwangen die Redaktionen, ihren Betrieb einzustellen.
Die Eindringlinge trugen Helme und Uniformen, die denen der Polizei-Spezialeinheit „Berkut“ ähnelten. „Die Angreifer haben sich weder vorgestellt, noch einen Durchsuchungsbeschluss gezeigt“, sagte Cenzor.net-Chefredakteur Yurij Butusow. „Sie befahlen unseren Mitarbeitern, sich von ihren Computern zu entfernen und ihre Mobiltelefone nicht zu benutzen. Dann beschlagnahmten sie unsere komplette Einrichtung. Das war ein krimineller Überfall, um eine Webseite auszuschalten, die über die Protestbewegung informiert hat.“
Dass sich der harte Kern der Demonstranten mit den Geschehnissen einfach abfindet, ist eher unwahrscheinlich. Denn einige Oppositionsführer hatten den Kampf für das EU-Assoziierungsabkommen in flammenden Ansprachen als eine Entscheidungsschlacht für die Zukunft der Ukraine bezeichnet. Vor allem aber besteht die Gefahr, dass die rechtsradikalen Gruppen, die seit Beginn der Pro-EU-Proteste in der Bewegung in vorderster Front mitwirken, gewaltsame Proteste organisieren.
Der Sturz des Lenin-Denkmals in Kiew – wohl das Symbol russischen Einflusses schlechthin – und der Angriff auf die Präsidialverwaltung tragen die Handschrift der rechtsnationalen radikalen Parteien Swoboda (Freiheit) und Bratstwo (Brüderschaft). So hatten Hunderte maskierte Bratswo-Anhänger versucht, mit einem Schaufellader, Pflastersteinen, Molotow-Cocktails und kreisenden Stahlketten die Präsidialverwaltung in Kiew zu stürmen. Über hundert Polizisten und Demonstranten wurden dabei verletzt. Einige der Gründer von Bratstwo hatten übrigens schon bei Regionalkriegen in Tschetschenien und Georgien gegen russische Truppen gekämpft.
Die Swoboda-Partei hingegen pflegte in ihrer Gründerzeit sogar ein NS-Image und führte eine modifizierte Wolfsangel als Symbol – das Zeichen der SS-Division „Das Reich“, die im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine gegen Sowjettruppen kämpfte. Inzwischen tragen die Fahnen der umbenannten Partei eine gelbe Hand mit drei nach oben gestreckten Fingern als Symbol.
Die EU hat vor dem Hintergrund der Ereignisse gestern einen Dialog zwischen Regierung und Opposition in Kiew gefordert. Die Außenbeauftragte Catherine Ashton versucht seit gestern, in Kiew Gespräche mit allen Seiten zu führen. Präsident Viktor Janukowitsch verteidigte indessen erneut den auf Moskauer Druck hin verhängten Stopp einer EU-Annäherung seines Landes. Ein Partnerschaftsabkommen mit der EU hätte den wichtigen Agrarsektor der Ukraine gefährdet, sagte Janukowitsch gestern bei einem live im Fernsehen übertragenen Treffen mit dreien seiner Amtsvorgänger.
Noch gibt es aber auch Stimmen der Vernunft. Boxweltmeister Wladimir Klitschko, dessen Bruder Vitali die Oppositionspartei „Udar“ anführt, rief gestern beide Seiten zur Zurückhaltung auf. Als Zeichen ihrer Bereitschaft dazu hätten Regierungsgegner heiße Suppe und Tee an Polizei-Einheiten ausgeschenkt, sagte Klitschko. „Sie frieren genauso wie wir.“ (mit dpa)
veröffentlicht in: Sächsische Zeitung