19. July 2010

Kartoffeln hinter Moskau

Auf den Datschen rund um die Hauptstadt herrscht im Augenblick Hochbetrieb. Die Liga der Selbstversorger ist in ihrem Element und die Obschtschina lebt munter weiter  

Es ist Samstag, acht Uhr morgens. Lidia Petrowna steht vor der großen Anzeigetafel im Kasaner Bahnhof von Moskau. Die kleine Frau mit den schlohweißen Haaren wartet darauf, dass die grünen Leuchtziffern endlich das Gleis anzeigen, auf dem die Elektritschka, so heißen die Vorortzüge, in das Wladimirskaja-Gebiet fährt. Dort, östlich von Moskau, in einer kleinen Siedlung mit uralten russischen Holzhäusern, will die alte Dame den Gemüsegarten ihres Sohnes Vadim in Schuss bringen.
 
Vorsichtig wie Porzellan trägt Lidia eine gelb-rote Billa-Tüte. Darin befindet sich das Wichtigste für dieses Wochenende: Tomaten- und Paprikapflanzen, seit März gezogen auf dem Fensterbrett ihrer Moskauer Wohnung, um nun der Erde im Datschen-Garten übergeben zu werden. So machen es Hunderttausende Moskauer jedes Jahr bis weit in den Juni hinein.

Nicht nur Lidia, einige hundert andere Datschniki blicken ebenfalls unruhig zur Anzeigetafel mit den grünen Leuchtziffern. Datschniki, so heißen die Menschen, die am Wochenende aus der Stadt zu ihren Wochenendhäuschen fahren. Vor allem Leute zwischen 50 und 70. Manche haben ihre Enkel dabei. Nur die Generation der 20- bis 30-Jährigen ist deutlich unterrepräsentiert. Gärtnern und Pflanzen ist bei der Jugend nicht besonders beliebt.

Endlich zeigt die Anzeigetafel die Gleisnummer des gewünschten Zuges an. Eiligen Schrittes setzt sich die Menge in Bewegung. Alle hoffen auf einen Sitzplatz. Doch die sind am Wochenende rar. Oft kommt es zu Rempeleien, aber Lidia hat Glück. Die gelb-rote Tüte sicher zwischen den Beinen schaukelt die alte Dame auf quietschenden Gleisen gemütlich aus der Stadt.

Kaum hat der Zug Moskau verlassen, beginnt im Waggon ein aufgeregtes Palaver. Bierflaschen werden geöffnet, Trockenfische und kaltes Fleisch ausgewickelt, die Schalen der Sonnenblumenkerne fliegen auf den Boden. Es bildet sich die erste Runde zum Kartenspiel.

Da erscheinen die Kontrolleurinnen und erwischen ein paar Schwarzfahrer, die dreist alte Tickets vorzeigen. Doch bleiben die Damen in der blauen Eisenbahneruniform gelassen. Strafen werden keine verhängt. Es darf weiterfahren, wer nur das Billett bezahlt: Für 200 Kilometer 350 Rubel, umgerechnet neun Euro. Die Datschniki lösen in Moskau meist nur Tickets für 50 Rubel (1,30 Euro). Strenge Fahrkartenkon­trollen, das wissen die Leute aus Erfahrung, gibt es nur kurz nach der Abfahrt. Auch die Bahn weiß schließlich, dass mehr geschummelt als gezahlt wird, drückt aber beide Augen zu – Kampf gegen die Schwarzfahrer ist in Russland aussichtslos.

Nach drei Stunden im 60-Stundenkilometer-Tempo erreicht die Elektritschka endlich die kleine Holzhaussiedlung. Die automatischen Türen des Zuges öffnen sich, und Lidia betritt einen nicht überdachten Bahnsteig aus einfachen Betonplatten, der wie ein ewiges Provisorium in der Landschaft wurzelt. Die alte Dame holt tief Luft. Dann geht sie zügigen Schrittes auf einem kleinen Trampelpfad zu ihrem Wochenend-Refugium, einem Holzhaus, mit den traditionellen hellen Holzverzierungen an Fenstern und Pforte. Am Gartentor wartet schon der Nachbar – Neuigkeiten sind in der Siedlung überlebenswichtig. Die nächsten Wachen von Polizei und Feuerwehr liegen mehr als 20 Kilometer entfernt. Wenn etwas passiert, müssen sich die Nachbarn untereinander helfen.

Strategische Reserve

Die Siedlung gehört, wenn man so will, immer noch zum Speckgürtel der Kapitale. Hier leben am Wochenende einfache Moskauer, welche die alten Behausungen von den Vorbesitzern – meist Eisenbahnern – gekauft haben. In der Siedlung kennt jeder jeden. Komfort gibt es nicht. Das Wasser schöpft man aus Brunnen oder Quellen im Wald. Die Toilette befindet sich in einem Holzhäuschen im Garten. Daran kann man sich gewöhnen. Was stört, sind die Mücken. Sie treten in den Moor-Landschaften östlich von Moskau zwischen Mai und Juli in unerbittlichen Schwärmen auf. Da hilft nur ein Hut mit Gaze als Gesichtsschutz.

Die Siedlungen bezeugen eine in sich ruhende soziale Topografie und erhalten gemeinschaftliche Ressourcen, über die Russland wie eine Versicherungspolice von strategischem Wert verfügt. Mit der berühmten Datschen-Kultur lebt die Tradition kollektiver wie individueller Selbstversorger fort. An der Peripherie von Moskau oder Petersburg werden mit dem Grundstück und der Wirtschaft im Garten sozio-ökonomische Polster gepflegt, mit denen sich manches Malheur und manche Krise abfedern lassen. Das galt besonders in den frühen neunziger Jahren, als Boris Jelzins Schock-Privatisierung viele Unternehmen an den Rand des Ruins trieb und regelmäßig gezahlte Löhne als Luxus galten.

In Russland können solche Versorgungsadern für Monate blockiert sein, ohne dass jemand erbärmliche Not leidet. Dann nämlich ist eine soziale Kultur herausgefordert, die es schon zu Sowjetzeiten erlaubte, eine schwankende Versorgung zu kompensieren. Heute erfüllt die Obschtschina weiterhin ihren Zweck und wäre mit dem Begriff Gemeinschaft nur unzureichend beschrieben. Eher handelt es sich um viele informelle Netzwerke der Selbstversorger und Nachbarschaftshilfen, die sich ungern in die Karten sehen, aber gern auf Lebenstüchtigkeit hin testen lassen.

Genau 41 Prozent der Haushalte in Moskau können auf die Datscha ausweichen und verbringen im Sommer größtenteils dort ihren Urlaub. Dies ergab eine Anfang Juni veröffentlichte Umfrage des regierungsnahen WZIOM-Meinungsforschungsinstituts. Nicht zufällig wirkt die Zehn-Millionen-Metropole an Juli- oder August-Wochenenden schwer entvölkert. Warum nehmen die Moskauer drei Stunden Fahrt im Vorortzug oder Staus auf den Ausfallstraßen in Kauf?

„Ich kehre der Stadt gern den Rücken. Ich esse gern frisches Gemüse, das ich selbst angebaut habe und von dem ich weiß, dass es in einer sauberen Landschaft gewachsen ist. Und ich kehre gern in die Stadt zurück”, meint Lidia etwas pathetisch. Dass man mit dem eigenen Garten auch Geld spart, ist zusätzlicher Ansporn. Der Anteil der Russen, bei denen der Anbau von Kartoffeln und Gemüse auf der Datscha zur Versorgung der Familie beitrug, lag im Krisenjahr 2009 bei immerhin 81 Prozent.

Wasser, braun wie Kaffee

Auf der Datscha warten schon Vadim, der Sohn von Lidia, und dessen Freundin. Vadim ist Maler. Er hat das alte Häuschen vor ein paar Jahren günstig erworben. Lidia ist froh, dass ihr Sohn bei der Feldbestellung hilft. „Dann weiß er, was man machen muss, wenn ich mal nicht mehr bin.“ Die alte Dame hat 40 Jahre lang als Chefköchin in einer Moskauer Werkskantine gearbeitet. Ein Leben ohne Arbeit kann sich die 70-Jährige überhaupt nicht vorstellen.

Schon tönen ihre ersten Kommandos. Zunächst müssen die größten Unkrautpflanzen mit dem Spaten ausgestochen sein. Dann werden mit einem Bindfaden die Linien zum Umgraben abgesteckt. Die ehemalige Chefköchin hat sich eine feste Arbeitskluft angezogen und einen Hut mit Mückengaze aufgesetzt. So ist sie geschützt. Die alte Dame scheut keine Mühe. Auf den Knien rutscht sie durchs Beet um altes Heu, das zur Lüftung und Düngung untergegraben wird, an die richtigen Stellen zu drücken.

Alle Handgriffe sind über Jahrzehnte eingeübt. In die Pflanzlöcher für Tomaten und Paprika wird Asche aus dem Ofen und Kunstdünger aus einer Tüte gestreut. Dann werden die 20 Zentimeter großen Pflanzen eingesetzt. Am Abend ist alles erledigt, allein mit dem Einsetzen der Kartoffeln will Lidia noch ein paar Tage Warten, bis der Mond abnimmt. Nach einer alten Bauernweisheit wachsen die Erdfrüchte dann besser. Immerhin: Letztes Jahr erntete die Familie in ihrem kleinen Garten zwei Säcke und ein paar Eimer.

Jetzt erst beginnt in der Siedlung die Erholung. Während im Wald der Kuckuck lockt, steigt aus dem Ofenrohr des Nachbarn der erste Rauch. „Die heizen jetzt die Banja an”, meint Vadim ein bisschen neidisch. Zu jeder richtigen Datscha gehört eine Banja, doch hat bei Lidia und Vadim das Geld bisher nicht gereicht. So bleibt nur das Baden im nahe gelegenen Flüsschen. Vorher muss noch frisches Wasser aus einer Quelle im Wald geholt werden. Wir sind mit einer Karre voller Plastikkanister auf einer schnurgeraden Asphaltstraße durch die Stille unterwegs.

Nach einer viertel Stunde kommen uns plötzlich zahlreiche Autos und Motorräder entgegen. „Die bringen Leute zur Elektritschka”, glaubt Vadim. Der Tross besteht komischerweise nur aus russischen Ladas, einem ehrwürdigen Wolga und Ural-Motorrädern. Kein Mercedes, kein BMW, keine japanischen und deutschen Jeeps, mit ihren starken Motoren und scheinbar allmächtigen Besitzern, wie man sie in der Hauptstadt sieht. Man hatte mich vorgewarnt. Schon 30 Kilometer hinter Moskau würde ich ein völlig anderes Russland sehen. Tatsächlich: Nach ein paar Minuten ist der Motorenlärm wieder vorbei, und wir schweigen auf einsamer Piste.

Irgendwann schlägt Vadim rechts am Weg die Zweige zur Seite. Man sieht einen mit frisch gesägten Holzlatten ausgelegten Pfad durch den Wald. An der Quelle hängt durch einen Stock gehalten ein alter Teekocher, mit dem sich der Ankömmling aus dem mit Holzbohlen eingefassten Loch im Waldboden klares Wasser schöpfen kann. Der Ort hat etwas Andächtiges. Von einer Fichte hängt eine Ikone herab. Auch im Winter werde die Quelle genutzt, erzählt Vadim, der hier mit Freunden das Neue Jahr gefeiert hat. „Unsere Bärte und Augenbrauen waren völlig vereist.“

Das Wasser in dieser Moorgegend ist braun wie Kaffee, aber „ökologisch sauber“, wie Vadim versichert, denn weit und breit gäbe es keine Fabriken oder Müllhalden. Stattdessen trägt der Wind den Duft von Pilzen über die Lichtung. Später vor der Rückfahrt nach Moskau sehen wir, wie Frauen, etwas jünger als Lidia, ganze Kisten mit Weißpilzen, Täublingen und Rothäubchen in die Elektritschka wuchten. Die Obschtschina lebt.

Ulrich Heyden

veröffentlicht in: der Freitag

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